Gabe oder Fluch: In dieser Adaption polarisiert Medea als Mensch und Hexe

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marionhh Avatar

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Medea, die Prinzessin von Kolchis, hat die Gabe der Zauberei, was sie zur Außenseiterin in ihrer Familie und in der Gesellschaft macht. Ihr Vater nutzt sie für seine Zwecke aus, sperrt sie ein, unterdrückt und musshandelt sie. Medea strebt danach, ihrem Gefängnis zu entfliehen. Die Chance bietet sich ihr in Gestalt von Jason, der mit seinen Argonauten das Goldene Vlies in seinen Besitz bringen will. Medea hilft ihm und unter großen Gefahren erreichen sie Jasons Heimat Iolkos. Dort will sie ihm zur Königswürde verhelfen, sie scheitern jedoch und werden aus Iolkos verbannt. Obwohl sie heiraten, zwei Söhne bekommen und Medea ihre Gabe unterdrückt, bleiben sie Außenseiter. Als Jason sich eine neue Frau nehmen will, sieht Medea rot.

Bildgewaltig, dramatisch, erschütternd! Auch wenn die Autorin sich eng an den antiken Dramendichtern orientiert, ist ihre Interpretation des Medea-Mythos doch einzigartig. Ihre Medea ist außergewöhnlich, verletzlich, zerrissen, schwankend, menschlich und doch göttlich, mächtig und doch ihren Gefühlen ausgeliefert. Ihr Charakter ist zwiespältig und vielschichtig, sie polarisiert und als Leser schwankt man zwischen Mitleid und Abscheu. Ist sie anfangs noch empathisch, hilfsbereit, naiv, ein Opfer ihres tyrannischen Vaters, wird sie mehr und mehr zur bösen Hexe, die sich auf die dunkle Seite der Macht schlägt und kein Erbarmen mehr kennt. Dennoch kann man als Leser nicht umhin, Verständnis für sie und ihre Entscheidungen aufzubringen, die aus ihrer tiefen Unsicherheit und ihr Streben nach Liebe und Anerkennung herrühren. Medea erfährt jahrelange Unterdrückung und physische und psychische Gewalt, so etwas wie Urvertrauen kann sie nicht aufbauen. Dies erklärt ihre zerrissene Seele, die für jede Art von Einflüsterung und Manipulation zugänglich ist.

Formal untergliedert sich der Roman in vier Teile, an deren Ende jeweils Wendepunkte für Medeas Leben stehen. Der erste endet mit der Verzauberung des Goldenen Vlieses und dem gescheiterten Versuch, ihrem Gefängnis zu entfliehen. Medea muckt zum ersten Mal auf. Den größten Teil nimmt der zweite Block ein, Jason tritt auf den Plan. Wer denkt, dass Jason der strahlende Held ist, irrt. Er ist ein Narziss, ein geschickter Manipulator und Verführer, auf seine Art ein ebensolcher Zauberer wie Medea, denn er verzaubert Menschen und kann sie für sich gewinnen. Dabei behält er stets sein Ziel im Auge, welches rein egoistisch ist, nämlich Macht zu erlangen, über andere zu herrschen, Anerkennung zu finden. Dafür geht er über Leichen, vermeidet es aber tunlichst, sich selbst die Hände schmutzig zu machen. Jason wird im Laufe der Geschichte für mich immer mehr zum Antihelden in seiner schändlichsten Form. Er manipuliert, lügt, betrügt, verdreht die Wahrheit, bedient sich Medeas Macht und will sie beherrschen. Sobald er sie nicht mehr benötigt, entledigt er sich ihr.

Auch wenn Medea immer wieder Zweifel hat und auch von außenstehenden Personen, wie der Kriegerin Atalante oder ihrer Tante Circe, gewarnt wird, kann sie sich den Engelszungen Jasons nicht entziehen. Aufgewachsen unter strenger Ägide ihres gewalttätigen Vaters, unter ständiger Beobachtung, einsam, mit schwacher Mutter wird sie ständig auf ihren vermeintlichen Defekt, ihre Magie, hingewiesen. Einerseits bedient man sich gerne ihrer Gabe, andererseits ist alles ist ihre Schuld. In dieser archaischen, von Männern dominierten Welt, in der Frauen praktisch nichts gelten, haben diese zu gehorchen und still zu halten. Passt eine nicht ins Schema, wird sie verstoßen. Als Jason aus Iolkos verbannt wird, geht Medea mit ihn, immer noch nicht gewahr, dass sie allein besser dran wäre. Weitere zehn Jahre zwingt er sie als ihr Ehemann dazu, ihre Macht zu unterdrücken und nur Hausfrau und Mutter zu sein. Sie, die nie mütterliche Liebe kennen gelernt hat, kann ihren Söhnen keine gute Mutter sein. Erneut lässt sie sich von Jason unterdrücken und ihr ureigenstes Wesen verleugnen, aber auch das ist nicht genug.

Der Übergang zu Teil vier ist ein Donnerschlag und der ultimative Wendepunkt. Medea erkennt, dass Jason jede Verantwortung ablehnt und dass er sich nie ändern wird. Ihre einzige Rechtfertigung für ihre Taten, nämlich die vermeintlich große Liebe und gemeinsame glückliche Zukunft, gibt es nicht. Der Zorn auf Jason und auch auf sich selbst bestimmt ihre Rache. Ihr Rachefeldzug gegen Jason ist allumfassend und schließt die gemeinsamen Söhne mit ein. Könnte man ihr Aufbegehren als etwas Positives begreifen? Das vermeintlich Gute, nämlich dass sie ihre eigenen Entscheidungen trifft und ihre Gabe zu etwas Positivem nutzt, wird ins Gegenteil verkehrt. Sie wird zur gefühllosen, kühlen Pragmatikerin, die nur noch zu ihrem eigenen Vorteil handelt und davon überzeugt ist, dass sie das Richtige tut. Um ihre Ziele zu erreichen, unterwirft sie sich komplett den dunklen Mächten, vor denen Circe sie gewarnt hat. Dafür muss sie einen hohen Preis zahlen: den Verlust ihrer Menschlichkeit. So wird die Geschichte im vierten und letzten Teil denn auch nicht mehr aus ihrer Perspektive erzählt, sondern aus der ihrer Schwester Chalkiope. Der Perspektivwechsel symbolisiert die Entpersonalisierung Medeas und lässt Chalkiope ebenso wie den Leser daran zweifeln, ob Medea noch ein Mensch ist.

Wie in den antiken griechischen Epen ist auch in diesem Roman Medeas Ende offen. Bei aller Düsterkeit gibt uns die Autorin ein bisschen Hoffnung in Gestalt von Chalkiope, einer Figur, die für mich tatsächlich eher schwach und unwirklich war, die aber deutlich an Kontur und Selbstsicherheit gewonnen hat. Während die anderen Figuren Medeas Leben begleitet und einen unterschiedlichen Einfluss auf sie ausgeübt haben, ist es schlussendlich die Schwester, die ihr in einem Akt der Gnade die Hand reicht.

Fazit: Auch als in der griechischen Mythologie wenig Bewanderter kann man den Roman als mythisch-fantasievolles Epos lesen, dennoch ist die Kenntnis der rudimentären Geschichte von Vorteil. Den Leser erwartet in jedem Fall ein fulminantes, bildgewaltiges Werk mit polarisierender Hauptfigur, in deren Leben man eintaucht und die sowohl Mitleid und Sympathie als auch Abscheu und Schrecken hervorruft. Fesselnd ist es immer und der Stil der Autorin ist ein wahres Vergnügen. Stark!