Aus dem Leben gefallen
Ein Bussard stürzt vom Himmel und will sich eine der Hennen der Erzählerin packen. Sie stürzt hinzu, kämpft, wehrt den Raubvogel mit bloßen, lediglich in Arbeitshandschuhen steckenden Händen ab, vertreibt ihn schließlich und malt sich aus, wie sie bei einem erneuten Angriff seinen Kopf an einem Baum zertrümmern würde. Nach diesem furiosen, filmreifen Einstieg fühlt man sich spontan an Marlen Haushofers "Die Wand" erinnert und tatsächlich haben wir es auch hier mit einer Eremitin zu tun. Wir erfahren, dass die offensichtlich gar nicht so sanftmütige Linda nicht immer einsam auf einem Hof gelebt hat und dass es ein "früheres Ich" gibt, mit dem ihr jetziges Leben nichts mehr zu tun hat.
Nach und nach erfahren wir, dass Linda in der Vergangenheit ein glückliches Bilderbuchleben mit ihrem Mann Richard in Leipzig hatte. Beide in tollen Berufen - sie Kuratorin einer Kunststiftung, er Maler und Kunstlehrer, eine schön renovierte und großzügige Altbauwohnung und eine gemeinsame Tochter, Sonja, ein "pflegeleichtes Kind", der Sonnenschein der Familie. Doch dieses Bilderbuchglück zerbricht an einem Julivormittag, als die 17jährige Sonja auf dem Fahrrad von einem abbiegenden LKW überfahren wird. In dem Moment, in dem sie im Krankenhaus mit dem Unfalltod der Tochter konfrontiert wird, begreift Linda, dass "unser Leben, so wie wir es kannten, hiermit beendet war" (S. 42). Sie stürzt in eine tiefe Trauer und Verzweiflung. Sie erträgt es nicht, weiter in Leipzig zu leben, wo alles sie ständig an das tote Kind erinnert. Als dann auch noch Schilddrüsenkrebs bei Linda diagnostiziert wird, ist sie fast schon froh es der Krankheit überlassen zu können, das ihr selbst nur noch sinnlos erscheinende Leben zu beenden, und sie versteht Richard nicht, der neuen Lebensmut fasst und gegen den Krebs kämpfen will. Sie überlebt, eher aus einem Reflex heraus, wie sie es selbst analysiert, und beschließt aber, je deutlicher ihr klar wird, dass es kein Zurück in die Zeit "davor" gibt, ihr "drittes Leben" (S.29) zu beginnen.
Der Entschluss reift, als sie in der Klinik die alte Frau Adomeit trifft, die ihr von ihrem Hof erzählt, für den es keine Nachfolger gibt. Das abweisende Straßendorf in der öden Gegend mit leeren Bürgersteigen und phantasielosen Vorgärten, in dem selbst die Dachziegel schrecklich sind, erscheint ihr absolut erstrebenswert, denn dort erinnert sie nichts an ihr totes Kind.
Sonja mietet den Hof und zieht sich dorthin zurück, zunächst für ein Jahr. Niemand aus ihrem Umfeld versteht den Schritt. Ihr Mann findet den Ort schrecklich, ist aber zunächst bereit, ihr die Zeit, die sie braucht, zu geben. Er kommt alle zwei Wochen auf Besuch und bleibt so Lindas einzige Brücke in ihr bisheriges Leben. Doch während Richard anfangs immer wieder versucht, sie zur Rückkehr zu bewegen, reagiert er zunehmend mit Unverständnis und erklärt Linda schließlich eines Tages, mit ihr reden zu müssen ...
Es sind diese Sätze ... mit Sätzen wie "Mein Name ist Linda. Linda bedeutet die Milde, die Freundliche, die Sanfte. Dieser Name hat nichts mehr mit mir zu tun." (S. 10) führt Daniela Krien die Protagonistin gleich auf den ersten beiden Seiten wie eine Geheimagentin oder einen Westernheldin ein, mit der nicht zu spaßen ist. Und tatsächlich hat sich mit dem plötzlichen Unfalltod ihres Kindes und einer Krebserkrankung jegliche Freude aus ihrem Leben verabschiedet. Doch es ist nicht nur die vollkommen nachvollziehbare Trauer - Linda scheint sich regelrecht selbst zu bestrafen, isoliert sich von Ehemann, Freunden und Mutter, indem sie sich an einen Ort zurückzieht, an dem "man nicht begraben sein will."(S. 17). Sie ist unfähig, gemeinsam mit ihrem Mann, den sie angibt nach wie vor zu lieben, um das verlorene Kind zu trauern. Statt dessen will sie "einen eigenen Hof (...) haben, dessen Tor man schließen und die Welt aussperren kann." (S.22). Sie sieht und versteht die Ratlosigkeit der Menschen um sie herum, doch sieht sie sich außer Stande, nach mehreren Trauerjahren wieder nach vorne statt nur in die Vergangenheit zu blicken. "Das ist ein Tod auf Raten" (S. 28) sagt Kindheitsfreundin Esther und Richard erklärt sie für verrückt und meint, "Du benimmst dich wie ein Tier, das sich zum Sterben zurückzieht." (S. 29). Doch Linda kann nicht anders - "Sie verstehen es nicht, sie fühlen sich bestraft, ohne sich schuldig gemacht zu haben " (S. 30).
Die einzige, die Linda bestrafen will, scheint sie selbst zu sein -"hier dagegen ist es mühsam und mühsam ist gut." (S.33) Doch haben wir es hier wirklich "nur" mit einer Trauergeschichte zu tun?
Wie bei den Matrjoschka-Puppen enthüllt Daniela Krien Schicht für Schicht Facetten von Linda's Charakter und wie die Menschen in ihrem Umfeld beginnen auch wir Leser*innen an Lindas selbstdestruktiver Trauer zu zweifeln ... gilt der Schmerz tatsächlich der verlorenen Tochter? Oder war dieses Kind eher "ein Mittel" zum Zweck und Linda trauert um sich selbst? Auch die Beziehung zu Richard scheint weit weniger harmonisch verlaufen zu sein, als es zu Beginn den Anschein hat, Verletzungen und ein Kinderwunsch als regelrechtes Kampffeld zwischen beiden spielen dabei wohl auch eine Rolle ... und warum wollte sie unbedingt auch noch ein zweites Kind von Richard, scheint aber dessen beide Kinder aus erster Ehe fast schon zu hassen?
Man will auf jeden Fall wissen, wie es weiter geht mit dieser zwiespältigen, getriebenen, keineswegs sympathischen Linda. Daniela Kriens Sprache fesselt und entfaltet eine regelrechte Sogwirkung, fast schon cliffhangerhaft deutet sie an, dass da noch viel mehr passieren wird in Lindas "dritten Leben" .
Nach und nach erfahren wir, dass Linda in der Vergangenheit ein glückliches Bilderbuchleben mit ihrem Mann Richard in Leipzig hatte. Beide in tollen Berufen - sie Kuratorin einer Kunststiftung, er Maler und Kunstlehrer, eine schön renovierte und großzügige Altbauwohnung und eine gemeinsame Tochter, Sonja, ein "pflegeleichtes Kind", der Sonnenschein der Familie. Doch dieses Bilderbuchglück zerbricht an einem Julivormittag, als die 17jährige Sonja auf dem Fahrrad von einem abbiegenden LKW überfahren wird. In dem Moment, in dem sie im Krankenhaus mit dem Unfalltod der Tochter konfrontiert wird, begreift Linda, dass "unser Leben, so wie wir es kannten, hiermit beendet war" (S. 42). Sie stürzt in eine tiefe Trauer und Verzweiflung. Sie erträgt es nicht, weiter in Leipzig zu leben, wo alles sie ständig an das tote Kind erinnert. Als dann auch noch Schilddrüsenkrebs bei Linda diagnostiziert wird, ist sie fast schon froh es der Krankheit überlassen zu können, das ihr selbst nur noch sinnlos erscheinende Leben zu beenden, und sie versteht Richard nicht, der neuen Lebensmut fasst und gegen den Krebs kämpfen will. Sie überlebt, eher aus einem Reflex heraus, wie sie es selbst analysiert, und beschließt aber, je deutlicher ihr klar wird, dass es kein Zurück in die Zeit "davor" gibt, ihr "drittes Leben" (S.29) zu beginnen.
Der Entschluss reift, als sie in der Klinik die alte Frau Adomeit trifft, die ihr von ihrem Hof erzählt, für den es keine Nachfolger gibt. Das abweisende Straßendorf in der öden Gegend mit leeren Bürgersteigen und phantasielosen Vorgärten, in dem selbst die Dachziegel schrecklich sind, erscheint ihr absolut erstrebenswert, denn dort erinnert sie nichts an ihr totes Kind.
Sonja mietet den Hof und zieht sich dorthin zurück, zunächst für ein Jahr. Niemand aus ihrem Umfeld versteht den Schritt. Ihr Mann findet den Ort schrecklich, ist aber zunächst bereit, ihr die Zeit, die sie braucht, zu geben. Er kommt alle zwei Wochen auf Besuch und bleibt so Lindas einzige Brücke in ihr bisheriges Leben. Doch während Richard anfangs immer wieder versucht, sie zur Rückkehr zu bewegen, reagiert er zunehmend mit Unverständnis und erklärt Linda schließlich eines Tages, mit ihr reden zu müssen ...
Es sind diese Sätze ... mit Sätzen wie "Mein Name ist Linda. Linda bedeutet die Milde, die Freundliche, die Sanfte. Dieser Name hat nichts mehr mit mir zu tun." (S. 10) führt Daniela Krien die Protagonistin gleich auf den ersten beiden Seiten wie eine Geheimagentin oder einen Westernheldin ein, mit der nicht zu spaßen ist. Und tatsächlich hat sich mit dem plötzlichen Unfalltod ihres Kindes und einer Krebserkrankung jegliche Freude aus ihrem Leben verabschiedet. Doch es ist nicht nur die vollkommen nachvollziehbare Trauer - Linda scheint sich regelrecht selbst zu bestrafen, isoliert sich von Ehemann, Freunden und Mutter, indem sie sich an einen Ort zurückzieht, an dem "man nicht begraben sein will."(S. 17). Sie ist unfähig, gemeinsam mit ihrem Mann, den sie angibt nach wie vor zu lieben, um das verlorene Kind zu trauern. Statt dessen will sie "einen eigenen Hof (...) haben, dessen Tor man schließen und die Welt aussperren kann." (S.22). Sie sieht und versteht die Ratlosigkeit der Menschen um sie herum, doch sieht sie sich außer Stande, nach mehreren Trauerjahren wieder nach vorne statt nur in die Vergangenheit zu blicken. "Das ist ein Tod auf Raten" (S. 28) sagt Kindheitsfreundin Esther und Richard erklärt sie für verrückt und meint, "Du benimmst dich wie ein Tier, das sich zum Sterben zurückzieht." (S. 29). Doch Linda kann nicht anders - "Sie verstehen es nicht, sie fühlen sich bestraft, ohne sich schuldig gemacht zu haben " (S. 30).
Die einzige, die Linda bestrafen will, scheint sie selbst zu sein -"hier dagegen ist es mühsam und mühsam ist gut." (S.33) Doch haben wir es hier wirklich "nur" mit einer Trauergeschichte zu tun?
Wie bei den Matrjoschka-Puppen enthüllt Daniela Krien Schicht für Schicht Facetten von Linda's Charakter und wie die Menschen in ihrem Umfeld beginnen auch wir Leser*innen an Lindas selbstdestruktiver Trauer zu zweifeln ... gilt der Schmerz tatsächlich der verlorenen Tochter? Oder war dieses Kind eher "ein Mittel" zum Zweck und Linda trauert um sich selbst? Auch die Beziehung zu Richard scheint weit weniger harmonisch verlaufen zu sein, als es zu Beginn den Anschein hat, Verletzungen und ein Kinderwunsch als regelrechtes Kampffeld zwischen beiden spielen dabei wohl auch eine Rolle ... und warum wollte sie unbedingt auch noch ein zweites Kind von Richard, scheint aber dessen beide Kinder aus erster Ehe fast schon zu hassen?
Man will auf jeden Fall wissen, wie es weiter geht mit dieser zwiespältigen, getriebenen, keineswegs sympathischen Linda. Daniela Kriens Sprache fesselt und entfaltet eine regelrechte Sogwirkung, fast schon cliffhangerhaft deutet sie an, dass da noch viel mehr passieren wird in Lindas "dritten Leben" .