Mein fahler Freund - Isaac Marion

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Die Welt hat sich verändert und liegt größtenteils in Trümmern. Wie das geschehen ist, weiß R nicht, er weiß auch nicht wie lange es her ist, seit er gestorben ist und sich als wandelnde Leiche wieder erhob. R ist ein Zombie und das macht ihm nicht viel aus. Nur seine Erinnerung, wie die an seinen Namen oder daran, was er früher war, fehlen ihm. Er spürt, dass er anders ist, als seine Artgenossen, die größtenteils in dem verlassenen Flughafen herumstehen und stöhnen.
Und der Hunger nach Leben, der ihn alle paar Tage überkommt, bringt ihn dazu, Dinge zu tun, die er eigentlich nicht tun will. Mit seinem besten Freund M und ein paar anderen macht er Jagd auf Lebende. Ihr Ziel: das Gehirn, denn mit jedem Bissen fließen Erinnerungen, Gedanken und Gefühle in die Zombies über.
Eines Tages überfallen die Zombies eine Gruppe Jugendlicher und R tötet den Anführer Perry. Dessen Gedanken gehen dabei auf R über und als er die blonde Julie sieht, ist es um ihn geschehen. Denn sie und Perry waren ein Paar und R setzt nun alles daran, die junge Frau am Leben zu erhalten. Sie lehrt ihn Dinge, die er einst kannte und R hungert geradezu danach.
Er beginnt die Dinge zu hinterfragen und löst damit einen Prozess aus, der in der Lage wäre, alles bisher dagewesene zu verändern. Aber es gibt Wesen, die genau das verhindern wollen.


Der Roman basiert auf einer Kurzgeschichte, die den Titel "Iam A Zombie Filled With Love" trägt und in englischer Sprache nachgelesen werden kann. Isaac Marion bereut seine Entscheidung, daraus einen Roman gemacht zu haben, sicher nicht. Bereits in 16 Sprachen übersetzt und nach Hollywood verkauft, zieht er schon jetzt weite Kreise.
Es hat mich einige Überwindung gekostet, zu diesem Roman zu greifen, denn zwar bin ich für alle Arten von Liebesgeschichten zu haben, aber hier schienen Cover und Klappentext auf eine eher unspektakuläre Geschichte hinzuweisen. Doch schon nach wenigen Seiten - darum sei die Leseprobe an dieser Stelle angeraten - wurde ersichtlich, dass der Autor etwas von seinem Handwerk versteht.

Isaac Marion ist es gelungen, aus einem eher banalen Thema einen halbphilosophischen, gesellschaftskritischen Roman zu schaffen, der, im Nachhinein gesehen, eigentlich gar nicht in erster Linie von Zombies handelt.
R ist ein junger Mann gewesen, als "der Fluch" ihn getroffen hat und er wünschte, er wüsste mehr darüber. Seine innere Kraft, sein Festhalten am Leben und seine Gedanken, die man jemandem, der kaum in der Lage ist ganze Sätze zu bilden, gar nicht zutraut, machen den Reiz dieses Werkes aus. Verbunden mit der wirklich überzeugenden sprachlichen Gewandheit bekommen zunächst oberflächliche Geschehnisse teilweise unheimlich viel Tiefe.
Julie ist in einer extremen Welt aufgewachsen. Und obwohl alles nur schlechter zu werden scheint und sie sich einem täglichen eng angelegten Drill unterziehen muss, hat sie sich ihre Menschlichkeit bewahrt. Gleichzeitig ist sie aber auch eine junge Frau geblieben, die ihre ganz eigenen Sehnsüchte hat. Der Erzähler des Romans wechselt nie hin zu ihr, dennoch wurde ihrer Figur, dadurch, wie R sie sieht und was sie ihm erzählt, sehr viel Persönlichkeit mitgegeben.
Die Liebesgeschichte steht nie im Vordergrund. Eher sind beide vom jeweils anderen fasziniert, denn beide verhalten sich nicht so, wie sie es eigentlich sollten. Hinzu kommt, dass R durch Perrys Erinnungen Teil hat an einigen Jahren, in denen Julie aufgewachsen ist. Es gibt später einen zögerlichen und dann einen sehr heftigen Kuss, aber keine vordergründige Romantik, kein Händchenhalten und Co. Wer so etwas nicht mag, sollte trotzdem zugreifen. Der Beziehung wohnt, gerade von Rs Seite aus, eher sehr viel Sehnsucht inne, die noch nicht einmal unbedingt nur der anderen Person gilt, sondern vielmehr auch dem, was sie darstellt.
Am meisten fasziniert war ich jedoch von M, dem besten Freund unseres Protagonisten. Wieder wird nie die Erzählperspektive zu ihm gewechselt, dennoch erscheint dieser Mann/Zombie sehr lebensecht und dreidimensional. Der frühere Playboy und Frauenheld wird mehr als deutlich, trotzdem scheint es auch ein Kerl zu sein, mit dem man Pferde stehlen kann. Er hat, wie man so schön sagt, das Herz auf dem rechten Fleck.
Was Gewaltdarstellungen angeht, so gibt es diese natürlich. Aber doch eher dezent und nie in eine bewusste oder unbewusste Splatterrichtung abdriftend. Selbst wenn R das Gehirn Perrys aus der Hosentasche zieht und isst - er hat sich ein wenig davon für später aufgehoben - hat das nichts abstoßendes. Ich habe mich sogar dabei erwischt, wie ich hoffte, er würde genau das tun. Denn jedem Bissen folgt eine Erinnerung, die wie ein Blitz in dunkler Nacht die Geschichte gewaltig belichtet; einerseits unterbricht und andererseits heftig vorantreibt.
Obwohl sie sich nur dieses eine Mal sehen, gehen auch R und Perry eine Beziehung ein. Der eine, der tot ist und wieder leben möchte und der andere, der lebt und sich den Tod wünscht. Was für eine abstruse Kombination - die funktioniert!
"Mein fahler Freund" ist einer dieser Romane, der einen packt und zwingt, die gesamte Geschichte in einem Rutsch durchzulesen. Auch wenn es trotzdem hier und da einige kleinere Kritikpunkte gibt - die ich nicht aufzähle, weil sie viel zu unbedeutetnd sind - erfasst einen diese Welle und reißt absolut überzeugend mit.
Das einzige, um das ich mir Gedanken mache, ist die Verfilmung. Denn ich glaube ehrlich gesagt nicht, dass man DAS in einen auch nur halbwegs überzeugenden Film packen kann. Darum sollten alle, die an Rs und Julies Geschichte interessiert sind, auf jeden Fall zum Buch greifen.

Absolute Leseempfehlung!
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