Liebevolle Anleitung für zugewandte Erziehung

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern
lihemann Avatar

Von

Die Journalistin und Autorin Nora Imlau hat gerade den Corona-Lockdown mit vier Kindern unterschiedlichster Altersstufen und einen Umzug gewuppt, da bringt sie auch noch ihr neues Buch raus. Natürlich mit dem ganzen Drum und Dran, Reise zur Buchpremiere, Lesung, Interviews, ständig den Instagram Account mit News füttern und ganz nebenbei eine Online-Kreativwerkstatt auf die Beine stellen. Mit Ratgebern wie dem ‚Geburtsbuch‘, ‚Mein kompetentes Baby‘ und ‚So viel Freude, so viel Wut‘ hat sie sich unter bedürfnisorientierten Eltern bereits einen Ruf als die Expertin für sämtliche Themen rund um Babies und Kinder erworben. Nun also kommt der 400 Seiten starke Familienkompass mit dem Zusatz „Was brauch‘ ich und was brauchst du?“, der am 31. August beim Ullstein Verlag erschien. Nora Imlau schreibt über ihr Buch, es sei das Elternhandbuch, das sie sich für sich selbst als Ratgeber für ihren Start in die Elternschaft gewünscht hätte.

In der heutigen Welt folgt das, was man unter Erziehung versteht, nicht mehr einem großen Mainstream mit festen, allgemein akzeptierten Regeln, an denen man als Eltern nur festhalten muss, um seinen Nachwuchs gesellschaftskonform groß zu bekommen. Die Möglichkeiten, sich zu Erziehungsthemen zu informieren sind mannigfaltig und zu jeder Strömung, jeder Idee findet sich die passende Community im Netz. Hinzu kommen tradierte ‚Wahrheiten‘ darüber, wie Kinder sind und behandelt werden müssen und natürlich bekommt man von den Großeltern und auch gerne mal von völlig Fremden an der Supermarktkasse gratis die tollsten Geheimtipps dazu. Insgesamt ergibt sich für Eltern ein riesiger, unübersichtlicher Flickenteppich, teils verwirrender, teil widersprüchlicher und in den meisten Fällen auch völlig kontraintuitiver Erziehungsweisheiten. Wie gut wäre es, wenn da endlich mal jemand Ordnung rein brächte, mit Wissenschaftlichkeit die verschiedenen Annahmen sortiert und bewertet und uns am Ende das Handbuch für eine gelungene Eltern-Kind-Beziehung in die Hand drückte. Nichts Geringeres will dieses Buch bewerkstelligen.

Im ersten Teil nimmt Nora Imlau uns die Illusion, frei zu sein in unseren Entscheidungen und Ansichten. Sie erklärt, wo Glaubenssätze herkommen und wie sie über Generationen vererbt werden und in uns schlummern, bis wir selbst Kinder haben und plötzlich feststellen, dass wir Dinge tun und sagen, die wir in unserer Elternschaft so nie wollten. Das Erbe der behavioristisch geprägten Erziehung des frühen 20. Jahrhunderts wirkt in uns nach und behindert uns darin, die liebevollen, zugewandten Eltern zu sein, die wir gerne wären. Diese Glaubenssätze gilt es ausfindig zu machen, zu begutachten und nötigenfalls über Bord zu werfen. Stattdessen brauchen wir Werte, die zur individuellen Familie passen und eine übergeordnete Orientierungshilfe, einen Nordstern, wie die Autorin ihn nennt, an dem wir uns in unserer Erziehung ausrichten.

„Wo wir stehen“ wird im zweiten Teil dargelegt. Der aktuelle Stand der Wissenschaft dient hier als Richtschnur dessen, was Heranwachsenden guttut und die Beziehung zu ihren Eltern stärkt. Hier legt Nora Imlau ihre Erziehungsphilosophie anschaulich dar und steckt den Rahmen der bedürfnisorientierten Elternschaft so ab, wie sie sie versteht. Dabei grenzt sie zugleich ab von diversen Strömungen, die ebenfalls Teil der weit verzweigten Community von Eltern sind, die sich als bedürfnisorientiert verorten. Wichtig ist ihr hierbei die Gleichwürdigkeit des Kindes, also der Fakt, dass ein Kind ein vollständiger Mensch mit Menschenrechten ist, im Gegensatz zu der überholten und doch noch weit verbreiteten Annahme, man müsse es erst zu einem guten Menschen formen (auch so ein Glaubenssatz). Sie wirbt für gewaltfreie Erziehung und setzt auf Kooperation statt Strafe.

Der Praxisbezug folgt nun im dritten und umfangreichsten Teil. Wie kann dieses neue Miteinander im Alltag aussehen? Welche Rolle spielen die Bedürfnisse der Kinder und auch die der Eltern? Nicht umsonst fragt schon der Titel sowohl nach den Bedürfnissen aller, auch der der Erziehenden. Wie kann ein Erwachsener die Führung übernehmen, ohne zu drohen und zu strafen? Wie vermitteln wir unseren Kindern unsere Regeln und Grenzen und was sollen wir tun, wenn sie einfach nicht kooperieren wollen?

Nora Imlaus „Familienkompass“ ist ein absolut lesenswertes Handbuch für gelingende Elternschaft im Sinne der Bedürfnisorientiertheit. Viele Aha-Momente in Bezug auf die eigene Kindheit und unser – manchmal sogar für uns selbst unerklärliches – Elternverhalten sind garantiert und machen das Buch zum Assistenten beim Ausmisten alter Glaubenssätze. Die Autorin schafft es, da bestärkend und aufmunternd auf elterliche Schultern zu klopfen, wo herkömmliche Ratgeber mit erhobenem Zeigefinger daherkommen. Die von ihr propagierte Authentizität und Unperfektheit ist erfrischend. Das Lesevergnügen brauchte ein wenig Zeit, denn nach so manchem Absatz musste ich aus dem Text aussteigen, um das Gelesene zu reflektieren. Ich bin froh und dankbar, dieses Buch gelesen zu haben.