Die Wahrheit hinter den Worten

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marapaya Avatar

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Den im Tierkreiszeichen Krebs geborenen Menschen wird mitunter eine gewisse Empathie nachgesagt, oder auch Einfühlungsvermögen genannt. Ich habe darunter immer verstanden, dass ich ganz gut rausfinden kann, wie es den Menschen um mich herum geht und welche Reaktion sie dazu gern von mir hätten. Das funktioniert in 8 von 10 Fällen gut, bei den restlichen liege ich dann oft richtig doll daneben. Meine Empathie ist leider stark an Sympathie geknüpft. Kann ich jemanden nicht gut leiden, versteh ich zwar, wie es ihm geht, will es ihm aber ungern zugestehen und agiere zuweilen hartherzig. Mein Einfühlungsvermögen wird also durch mich selbst sabotiert. Wie Cassandra meine Mitmenschen gar nicht lesen zu können, muss allerdings richtig furchtbar sein. Es ist doch so viel Subtext in einer Aussage: Im Ton des Gesagten und der Mimik und Gestik des Gegenübers. Oft erschließt sich der Inhalt nur durch die richtige Einordnung des Subtextes. Deswegen funktioniert der ironische Unterton auch bei Kindern nie richtig, weil die Ironie noch nicht drauf haben. Cassandra kennt ihr Handicap und versucht in der Regel dagegen zu steuern. Sie nimmt ihren Gegenüber oft mit einer Art Aura wahr, allerdings sind die Farben genauso individuell wie ihre Stimmungsbesitzer und das macht die Sache nicht leichter. Gerade wurde sie völlig überraschend von ihrem Freund verlassen. Nach vier Monaten Beziehung, die bisher längste, und ganz viel Gefühl für Will. Überhaupt war Will der einzige Lichtblick in ihrem Leben. Ihr Job in einer PR-Agentur verläuft katastrophal, die Kollegen und Kunden sind durchweg anstrengend und der Chef hat sich endlich durchgerungen, sie rauszuschmeißen. In ihrer WG sieht es nicht anders aus. Die Uhr bis zum Auszug tickt. Und nun verliert sie auch noch Will. Der Zusammenbruch ist vorprogrammiert und plötzlich beginnt der Tag von vorn. Cassandra kann in der Zeit zurück reisen, zumindest bis zum Beginn ihrer Beziehung vor vier Monaten und natürlich entspinnt sich ihr die Idee, es gar nicht erst zur Trennung kommen zu lassen, weil sie Will die perfekte Freundin geben wird. Dabei gerät allerdings so einiges durcheinander. Türen zur Vergangenheit öffnen sich urplötzlich, die Zeitlinien überlagern sich und nichts funktioniert nach Plan.
Wer in Holly Smales Roman eine Geschichte à la „Und täglich grüßt das Murmeltier“ erwartet, der wird enttäuscht. Cassandra kann sich durch das simple Zusammenkneifen ihrer Augen zu einem beliebigen Punkt innerhalb des Viermonatsradius zurückblinzeln. In unserer Smartphone beherrschten Zeit birgt dies aber zahlreiche kommunikative Gefahren, Leer- und Fehlstellen. Und nicht nur Cassandra verliert den Überblick bei ihren vielen Sprüngen zurück. Für mich als Leser ist es genauso anspruchsvoll am Ball zu bleiben. Zu gern würde ich Cassandra an der Schulter packen und um eine Pause bitten. Das liegt nicht am Erzählstil. Der ist toll. Ich mag sehr, wie die Autorin mich in diese Welt einführt, in der das Lesen von Menschen so unmöglich erscheint und das Leben nach bestimmten Mustern und Planungen zu erfolgen hat. Ich habe nur so wahnsinnig viel Empathie für Cassandra, dass es mich schmerzt, wie sehr sie versucht, sich selbst rückgängig zu machen. Sie nimmt sich als Störfaktor in der Welt der Normalen war und droht in der Einsamkeit zu versinken. Durch ihre neue Superkraft bekommt sie aber nach und nach den Dreh raus. Denn durch das mehrfache Erleben derselben Situation, beginnt sie plötzlich die Nuancen im Verhalten der anderen wahrzunehmen und kann sich ein kleines bisschen öffnen. Dadurch scheinen auch die anderen sie besser lesen zu können und sind in der Lage ihr Empathie entgegenzubringen.
Als Küchentischpsychologin ist mir natürlich relativ schnell klar, welche Diagnose Cassandra wohl von einem Arzt erhalten würde. Doch für die Hauptfigur ist die Sache nicht so simple wie für mich. Es geht ja um sie selbst und es schlummern einige Traumata in ihr, denen sie sich nur zu gern verweigert. „Mein schrecklich schönes Leben“ erzählt von einer ganz besonderen Selbstfindung – unterhaltend, nachdenklich stimmend, witzig, chaotisch und berührend. Zeitreise ohne Science Fiction, aber mit viel Herz und Verstand.