Warum man zum Nazi wird - und warum man abspringt.

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ismaela Avatar

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Unter diesem Buch habe ich mir ursprünglich etwas ganz anderes vorgestellt. Ich dachte beim Klappentext und der vorangegangenen Leseprobe an eine Art Biographie eines Aussenseiters bzw. "Verlierers", der sich in Nazikreisen eine Art zweite Familie schafft, und dann, nach einem einschneidenden Erlebnis, schockiert / angewiedert / frustriert der ganzen Gruppe den Rücken kehrt und geläutert ist.

Christian Weißgerber bringt keines dieser Klischees. Oder zumindest nicht wirklich. In seiner Beschreibung seiner Kindheit und Jugend in einem lieblosen Elternhaus, unter der Fuchtel seines (alleinerziehenden) tyrannischen Vaters, sind eigentlich alle Zutaten enthalten, die man braucht, um sich eine Alternative zu suchen, doch Weißberger entscheidet sich nicht auf Grund dessen für die rechte Szene. Immerhin hat der Vater in Teilen genau die gleichen dumpfen Nazi-Parolen auf den Lippen, die man aus dieser Szene so kämpft. Weißberger entscheidet ganz rational und überlegt, warum ihm gerade die rechte Szene einen Lebensstil ermöglichen könnte, den er leben will. Dazu gehören Tapferkeit, Treue, die Liebe zum Vaterland, der Kampf gegen das System, die richtige Ernährung und die Achtung des eigenen Körpers. Er kann nichts mit dumpfen Nazischlägern anfangen, die einfach nur ihren Frust an anderen Menschen abarbeiten, sondern ist auf einem intellektuellen Level unterwegs, auf dem er Denk- und Lebensphilosophien der nationalsozialistischen Bewegung verinnerlicht und auch weitergibt.
Der Autor beschreibt aber nicht nur seinen eigenen Lebensweg, er legt auch sehr fundiert und neutral dar, warum man sich einer Bewegung anschließt, von der man weiß, welche Katastrophe sie in der Vergangenheit über Europa gebracht hat. Dabei geht es um den reinen Wunsch, dazuzugehören, es wird ein inniges Zusammengehörigkeitsgefühl generiert, es wird der Eindruck erweckt, man könne das zur Zeit herrschende (politische) System stürzen (deshalb wird auch nicht selten mit Mitgliedern der Antifa zusammengearbeitet).

Insgesamt ist dieses Buch eine interessante Abhandlung darüber, wie es wissentlich der (deutschen) Vergangenheit immer noch sein kann, ein System wie den Nationalsozialismus nicht nur zu favorisieren, sondern auch bewusst voranzutreiben. Die Hintergründe, die der Autor beschreibt, sind sehr interessant und nachvollziehbar, aber trotzdem. Das, was mir in dieser Geschichte gefehlt hat, war die letztendliche Abkehr des Autors von der rechten Szene. Er beschreibt zwar, dass er irgendwann mit diesen Ansichten und Lebensweisen nicht mehr zurecht kam, und er durch persönliche Angriffe in die Defensive geriet. Aber ist er nun kein Nazi mehr, weil im die Art und Weise, wie die Nazis heute leben und/oder agieren, zuwider ist, und er eine andere Art des Nationalen möchte? Oder hat er sich distanziert, weil er wirklich erkannt hat, wie menschenfeindlich und totalitär der (Neo-) Nationalsozialismus ist? Das war für mich nicht klar erkennbar.

Insgesamt aber ist dieses Buch eine sehr gute Lektüre für alle, die sich nicht nur für die Nazischläger am rechten Rand interessieren, sondern auch dafür, wie viele gut gebildete und gut situierte Menschen in diesen Sog geraten. Und sich dort sehr wohl fühlen.