Zwischen Introspektion und Geschwurbel

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retemirabile Avatar

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Ich bin hin- und hergerissen. Das Buch, in dem Christian E. Weißgerber analysiert, wie er in seiner Jugend zum Neonazi wurde, lässt sich gut lesen. Und es erfüllt die gestellte Aufgabe, das "Warum" zu ergründen, durchaus - die Mischung aus Faszination für Disziplin, Körperkult und eine Jugendbewegung inklusive ihrer radikalen Musik lässt einen zumindest auf einer abstrakten Ebene verstehen, warum es den Autor damals dazu gezogen hat. Dass man es am Ende doch nicht ganz verstehen kann, weil einem immer ein großes "Aber! Ihr kanntet doch auch unsere Geschichte!" vor Augen schwebt, kann das Buch nicht verhindern. Es fehlt, wie sich der Autor damals mit Widersprüchen auseinander gesetzt hat - erst später führen diese zu einem Umschwung und letztendlich auch einem Ausstieg. Zugegeben heißt das Buch nicht "Wie ich es schaffte, aus der Neonazi-Szene auszusteigen" - ein paar mehr Details dazu hätte ich trotzdem in dem Text erwartet. Ebenso weist der Autor zwar immer mal wieder auf das aktuelle Parlament und seine Mitglieder, die Alternativen suchen, hin, doch auch hier gibt es wenig Erklärung, auf welcher Ebene sich tätowierte Rechtsrockhörende mit den besorgten Bürgern treffen - dass sie es auf irgendeiner Ebene tun, wird zu Recht festgestellt. Was nicht heißt, dass das Buch an Erklärungen mangelt. Eher hat man manchmal das Gefühl, in einen großen Mansplainertopf gefallen zu sein. Dann verliert sich Weißgerber in intellektualisierendem Geschwurbel, welches ihm womöglich damals auch zu einer Leitposition verholfen hatte.
Insgesamt hat das Buch seine Schwächen, die ausgewogene Mischung aus persönlicher Erfahrung und des Versuchs einer "generelleren" Erklärung zu finden. Was es dennoch findet, ist einen gerechtfertigten Platz in den Reihen der Aufarbeitungstexte, um gegebenenfalls Warnzeichen eines "in die Szene Rutschens" frühzeitig zu erkennen.