Scharfsinniges und bissiges Familiengemälde

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Rebecca Waits frecher, humorvoller und bedrückender Roman “Meine bessere Schwester” enthüllt toxische Familiendynamiken und belastete Geschwisterbeziehungen. Schonungslos und mit sehr feiner Beobachtungsgabe werden die Rivalitäten zwischen Kindern und die einzigartigen, sehr unterschiedlichen Beziehungsgeflechte zwischen Eltern und Kindern ausgelotet. Die Autorin schreckt nicht vor unangenehmen Wahrheiten zurück. Es gelingt ihr hervorragend sich in jede ihrer Figuren ausgiebig einzufühlen, herauszuarbeiten, warum diese so fühlt und wieso sie sich nur so verhalten kann. Bezeichnenderweise wirbt sie bei aller Empathie nicht um die Sympathie des Lesers für ihre wirklich sehr beladenen Figuren. So gelingt ihr eine faszinierende Balance zwischen scharfsinnigen Einzelporträts und einem umfassenden Familiengemälde, beherrscht von starken Charakteren mit sehr unterschiedlichen Einzelinteressen. Durch die zwischen neutral und ironisch-distanziert schwankende Erzählweise werden hochdramatische Momente vermieden, dafür gibt es zahlreiche humorvolle Beschreibungen und lustige Situationen, die den Leser zum Lachen bringen können.

Handlungstechnisch ist der zeitliche Verlauf bisweilen etwas verwirrend, die Handlung springt zwischen Gegenwart und Rückblicken munter hin und her, es gibt sehr viele Personen, die die Handlung bevölkern; insgesamt hätte sicherlich etwas gestrafft werden können, auch wenn die Rückblicke natürlich absolut unerlässlich sind, um z.B. das Verhalten und die Handlungsoptionen der Mutter Celia zu verstehen.

Im Übrigen hätte ich mir im Klappentext einen deutlichen Verweis darauf gewünscht, dass dieser Roman als wesentliches Thema psychische Erkrankungen/Störungen behandelt (u.a. Schizophrenie und Psychose). Ich weiß, dass dies Bereiche sind, mit denen viele Leser nicht konfrontiert werden möchten, selbst ich fühlte mich etwas überrumpelt, als der leichte Ton in die Untiefen von Paranoia und Wahnvorstellungen glitt.

Insgesamt ist „Meine bessere Schwester“, dessen Originaltitel „I’m Sorry You Feel That Way“ eigentlich sehr viel besser umschreibt, worum es in diesem Roman geht – um Dominanz, Desinteresse, Ausnutzen von Beziehungen zum eigenen seelischen Vorteil, Oberflächlichkeit und falsches Mitgefühl – eine unterhaltsame, bissige, psychologisch detaillierte und überzeugende Familiengeschichte, in der wir alle etwas von uns wiederfinden können.