Atmosphärisch beeindruckend

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regenprinz Avatar

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Dieser Auftaktband von Elena Ferrantes Neapelsaga hat mich vor allem durch seine atmosphärische Dichte beeindruckt. Man fühlt sich beim Lesen wirklich in dieses ärmliche Stadtviertel, Rione genannt, in den 50-er Jahren zurückversetzt. Eine Zeit, die noch durch düstere Kriegserlebnisse geprägt ist, durch familiäre Gewalt und heftige Auseinandersetzungen, durch eine Nachbarschaft, die alles mitbekommt und dennoch zu allem schweigt. Die Chancen, aus dem eigenen Leben etwas zu machen, sind ungleich verteilt und es gilt außerdem stets, sich mit der Camorra gut zu stellen.
Der Roman schildert eindringlich und sehr lebendig das Aufwachsen zweier Mädchen, die auf den ersten Blick unterschiedlicher nicht sein könnten - Lila, Tochter eines Schusters, und Elena, Tochter eines Pförtners der Stadtverwaltung. Während letztere eher angepasst und brav wirkt, schreckt Lila vor nichts zurück. Sie legt sich mit älteren Jungen und bedrohlichen Nachbarn an, beweist in der Schule, dass sie weit klüger als alle anderen Kinder ist und träumt vom Ausbrechen aus dem Ghetto. Doch das Leben hat anderes mit den beiden Mädchen vor und so ist es am Ende Elena, die zum Ärger ihrer Mutter durchsetzt, aufs Gymnasium zu gehen, die in den Ferien verreist und zuerst Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht macht, während doch Lila eigentlich diejenige ist, die sämtliche Herzen bricht.

Mir hat dieser erste Roman der geplanten vier Bände gut gefallen. Die Handlung bietet tiefe Einblicke in die Welt, in der die Geschichte der beiden Freundinnen angesiedelt ist. Die Figuren sind dabei facettenreich. Mitunter wirken die Mädchen eigenartig fremd und spröde im Umgang miteinander, aber ihr Verhältnis ist ja durchaus ein eher schwieriges, nicht nur weil sie teilweise Konkurrentinnen sind. Mit den zahlreichen Nebenfiguren wird man beim Lesen ebenfalls schnell vertraut.
Besonders gut gefallen hat mir auch der Rahmen der Geschichte, die im Rückblick erzählt wird, denn zu Beginn des Buches steht Lilas spurloses Verschwinden im Alter. Wo sie wohl ist? So radikal wie sie alles getilgt hat, was mit ihr zu tun hat, scheint eine Rückkehr unmöglich, oder? Nun, ich bin jedenfalls gespannt auf die weiteren Bände und den Fortgang der Handlung.

PS: Ach ja, dass das Pseudonym der Autorin und ihr Wunsch, unerkannt zu bleiben, von Journalisten nicht akzeptiert wurde und sie nun reißerisch "enttarnt" werden musste, finde ich übrigens richtig mies.