Ein literarisches Glanzstück

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mrsamy Avatar

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Eines Tages klingelt Elenas Telefon. Es ist Rino, der Sohn ihrer besten Freundin Lila. Seine Mutter sei verschwunden und er wisse nicht, wo er nach ihr suchen soll. Schnell stellen die betagte Elena und Rino fest, dass Lila nicht einfach verschwunden ist, sondern wortwörtlich ihre Existenz ausgelöscht hat. Kein Foto, kein Kleidungsstück, nicht einmal ein Staubkorn hat sie von sich zurückgelassen. Elena beschließt, Lila die Stirn zu bieten und beginnt, ihre gemeinsame Lebensgeschichte aufzuschreiben – wider dem Vergessen.

„Meine geniale Freundin“ ist dabei der erste Band der vierteiligen Neapolitanischen Saga und thematisiert die Kindheit und Jugend der beiden Freundinnen. Der Leser lernt die junge Elena kennen, die in einem volkstümlichen Viertel – Rione – von Neapel aufwächst. Flüche, derbe Worte und außerhäusliche und –häusliche Gewalt prägen den Alltag, der trotz dessen nicht düster erscheint. Es ist eben eine andere Zeit, eine andere Mentalität, in die der Leser hier eintaucht. Elena ist schnell fasziniert von der frechen Lila, die sich weder beim Spielen noch im Unterricht unterordnet. Sie ist dreckig, unangepasst – und genial. Mit zunehmendem Handlungsverlauf wird immer deutlicher, warum der Roman den Titel „Meine geniale Freundin“ trägt. Lila hat sich bereits in frühester Kindheit selbst das Lesen und Schreiben beigebracht, löst schwierigste Mathematikaufgaben und lernt später scheinbar mühelos Latein und Griechisch. Dabei ist sie jedoch auch eine Getriebene ihrer eigenen Genialität, was sie interessiert, muss gelernt werden – und zwar bis zur Perfektion. Elena schaut bewundernd zu ihrer Freundin auf, auch sie ist intelligent, doch an Lila reicht sie nicht heran. Allein das Leben meint es besser mit ihr. Während sie auf das Gymnasium gehen darf, muss Lila bald schon in der Schusterei ihres Vaters mitarbeiten. Nicht selten wird dem Leser bewusst, dass Elena auch unter ihrer Freundschaft zu Lila leidet. Denn Elena braucht Lila. Sie ist wie eine Sonne, um die Elena beharrlich kreist, auch wenn Lila sie mitunter mit Missachtung straft oder mit Worten verletzt. Lila dagegen scheint nichts und niemanden zu brauchen, ihr Charakter ist schwer durchschaubar, gerade weil er so einfach scheint.

Elena Ferrante – der großen Unbekannten der Gegenwartsliteratur – ist mit „Meine geniale Freundin“ ein außerordentliches literarisches Glanzstück gelungen. Äußerst geschickt zieht sie den Leser immer tiefer in die Lebenswelt von Elena und Lila. Schon bald streift man mit beiden durch die Gassen und Straßen des Rione, erlebt die Ängste kleiner Mädchen und ist das erste Mal mit ihnen verliebt. Die Handlung ist nicht wirklich mit Spannung durchdrungen. Vielmehr gleicht sich einem Fluss, der sich stetig seinen Weg bahnt. Man darf bereits heute neugierig sein, auf die weiteren Bände der Saga und damit auf den weiteren Lebensweg zweier Frauen, die eine außergewöhnliche Freundschaft verbindet.