Großartiger Roman einer Freundschaft und Sittenbild der 50er

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Eine Frau ist verschwunden, hat ihr Leben förmlich ausradiert und einen lebensuntüchtigen erwachsenen Sohn zurückgelassen. Rafaella Cerullos Verschwinden ist der Anlass für ihre beste Freundin Elena, die Geschichte ihrer Freundschaft zu erzählen. Die Mädchen sind 1944 in einem Arme-Leute-Viertel Neapels geboren und kennen sich seit der ersten Klasse. Elenas Vater arbeitet als Pförtner, Lilas Vater als Schuhmacher. Typisch für eine Kindheit in den 50ern beschränkt sich die Vorstellung der Mädchen von der Welt auf das Haus und die Straße, in der sie leben. Das Meer haben manche noch nie gesehen. Zuhause wird Dialekt gesprochen und Konflikte um die Ehre von Schwestern und Töchtern werden mit Gewalt ausgetragen. Menschen sterben im Krieg, bei Unfällen oder an banalen Krankheiten. Konkrete wie abstrakte Ängste liegen wie eine dunkle Wolke über dieser Kindheit; Angst vor Leitungswasser, vor dem Verschlucken von Kirschkernen und vor dem unheimlichen Don Achille im vierten Stockwerk. Ängste werden Ferrantes Figuren ihr Leben lang begleiten.

Rafaella, „Lila“, ragt schon als Kind aus den vom Alltag gebeugten Figuren heraus durch ihre Entschlossenheit und Furchtlosigkeit. Lila konnte schon vor der Schule lesen und schreiben, ihr scheint alles zuzufliegen, anders als Elena die sich im Unterricht anstrengen muss. Wenn sie nicht fleißig ist, werden die Eltern sie aus der Schule nehmen, haben die Grecos gedroht. Elena hat das abschreckende Beispiel von Lilas Bruder Rino vor Augen, der für Kost und Unterkunft für den Vater arbeiten muss und - gegen den Willen des Vaters im Betrieb keinen Stich selbstständig tun darf. Dass eine Tochter aus dieser Familie überhaupt länger als unbedingt nötig zur Schule gehen darf, ist ungewöhnlich fortschrittlich. Der alte Cerullo befürchtet offenbar, dass sein Sohn sich ihm entfremden wird, wenn er ihn beruflich eigene Wege gehen lässt, während er seine Tochter loslassen kann und sie fördert. Das Bewusstsein, dass vor ihnen selbst schon Menschen gelebt haben, das Wissen über die „Sünden der Väter“ unterscheidet die Mädchen von der Generation ihrer Eltern – und dieses Bewusstsein öffnet ihnen die Tür zu Bildung. Aus dem Kellerloch des „Früher“ will Stefano Carracci unbedingt ausbrechen – mit Lilas Hilfe.

Selbst als sich die Wege der Mädchen trennen und Elena allein zum Gymnasium geht, bleibt Lila die „geniale Freundin“. Lila als Mentorin und Antreiberin ist ihrer Freundin stets einen Schritt voraus. Ohne Lila hätte Elena das Gymnasium sicher nicht geschafft. Lila lebt praktisch ein fremdes Leben, indem sie Elena durch ihr Vorbild einen Weg aus dem Viertel aufzeigt.

Neben der ungewöhnlichen Beziehung der beiden Mädchen lässt sich intensiv das Verhältnis zwischen Rino und seinem Vater Fernando verfolgen. Rino und Lila wollen im Geschäft des Vaters Maßschuhe anfertigen. Dessen Fantasie reicht jedoch nicht aus, um im Konkurrenzkampf gegen billige Fabrikware neue Wege zu wagen, und er ist nicht in der Lage, seine Kinder eigene Wege gehen zu lassen. Rino ist dem Willen des Vaters auf Gedeih und Verderb ausgeliefert, der von der Idee nicht viel hält. Für den Sohn scheint es keinen Weg heraus aus dem Viertel und der ewigen Armut zu geben. Mädchen dagegen können durch Heirat gesellschaftlich aufsteigen - oder durch Bildung, wie Elena. Als Lila mit 16 Jahren den Sohn des Lebensmittelhändlers heiratet, ist sich Elena noch sehr unsicher, ob Reichtum durch Bildung wirklich das ist, was sie sich vom Leben erträumt hat.

Elena Ferrante beschränkt sich in ihrer Erzählung in der Ichform auf die Fakten und schränkt ihre Schilderungen mit der Bemerkung ein, sie sei sich im Rückblick ihrer Gefühle in beschriebenen Situationen nicht mehr sicher. Diese Relativierung lässt den ersten Band ihres schon 1991 verfassten vierteiligen Romans sehr aufrichtig und glaubwürdig wirken. Die Entscheidung zwischen Aufstieg durch Bildung oder durch Heirat, wie auch der Vater-Sohn-Konflikt der Cerullos sind universelle Konflikte, die von Lesern auf der ganzen Welt verstanden werden. Als großartiger Roman einer Freundschaft und Sittenbild der 50er Jahre hat „Meine geniale Freundin“ mich nicht nur mit seiner nur vordergründig einfachen Sprache beeindruckt, sondern ebenso mit wichtigen und starken Nebenfiguren wie Elenas Grundschullehrerin oder deren Cousine Nella.

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Zitat
„Erst heute, da ich dies schreibe, wird mir bewusst, dass Fernando damals nicht älter als fünfundvierzig gewesen sein dürfte, Nunzia war sicherlich noch einige Jahre jünger. Die beiden zusammen sahen an jenem Morgen phantastisch aus, er im weißen Hemd, im dunklen Anzug und mit seinem Randolph-Scott-Gesicht und sie ganz in Blau, mit einem blauen Hütchen und einem blauen Schleier.“ (Seite 401)