Auf den Spuren der Mutter und ihrer Familie
Die verstorbene Mutter (Suizid) verstehen wollen, die Vergangenheit verarbeiten und damit abschließen
Als die Fotografin und Autorin Bettina Flitner 2023 anlässlich der Lesung ihres Buches ‘Meine Schwester’ in Celle ist, besucht sie dort nicht nur das Grab ihrer Mutter, an die sie seltsamerweise lange nicht mehr gedacht hat, sondern auch das Haus ihrer Großeltern, wo sich jetzt Ämter der Stadtverwaltung befinden (‘in Büro-Kostümierung’, 26). Vieles ist noch da, auch Kleinigkeiten wie z.B. ein Türknauf. Das Ganze weckt Erinnerungen, auch, weil sie zufälligerweise kurz vorher von einer bekannten Fotografin Fotos ihrer Mutter (45 Jahre) aus dem Jahre 1982 bekommen hatte.
Es scheinen merkwürdige Familienverhältnisse gewesen zu sein, was schon bei der Beerdigung zu merken ist. ‘Sie hat nie etwas getaugt’, sagt der Großvater. Auch sind die beiden Schwestern nicht so traurig, wie man es erwarten würde. Die Mutter hatte sich mit 47 Jahren erhängt; leider folgte ihr viele Jahre später die Schwester der Autorin. Sie fragt sich: ‘Was ist eigentlich passiert? Warum? Wo ist der Ursprung für das alles?’ (19)
Der ‘Weg zurück, tief in die Vergangenheit, in die Welt meiner Mutter, meiner Großeltern, meiner Urgroßeltern’ (37).
Sie nimmt uns mit auf eine Reise in die Vergangenheit, nach Wölfelsgrund, Niederschlesien, das heute Międzygórze heißt und in Polen liegt. Ihr Buch beruht auf Gesprächen, aufgeschriebenen Erinnerungen, Briefen, Zeitdokumenten und eigenen Erinnerungen.
In diesem idyllischen Dorf, einst Luftkurort, das sich seit 140 Jahren, kaum verändert hat, wandelt sie auf den Spuren ihrer Vorfahren, die hier ein Sanatorium gegründet hatten. Dort wurde die Mutter 1936 als Tochter des Sanatoriumsarztes geboren, verbrachte ihre Kindheit in der Nazizeit. Dann brach die Katastrophe über alle herein: der Zusammenbruch, die Russen kommen, dann die Polen (die große Westverschiebung). Das alles spürte das niedliche verwöhnte kleine Mädchen Gila als namenlose drohende Gefahr. Sie hörte die Schreie der Frauen in der Nacht, Flüchtlinge überschwemmten das Dorf, ihr geliebter Bruder war gefallen und es gab viele Selbstmorde.
Langsam beginnen Autorin und Leser zu verstehen, was die Mutter als Kind miterleben musste und was sie wahrscheinlich für immer traumatisierte. Das vermittelt sie teils in nüchternen Worten, teils in bildhafter Sprache, z.B. auch, wenn sie den Kontrast zwischen malerischer Landschaft und Kriegsgräueln schildert: verstümmelte Soldaten, Menschen auf der Flucht, die nicht wissen, wohin (152).
‘Ein Gestern und ein Morgen gibt es nicht mehr. Die Vergangenheit hat sich losgerissen und flattert davon, bald wird sie vom Horizont verschwunden sein. Die Zukunft ist ausgelöscht, existiert nicht mehr. Alles ist jetzt Gegenwart. Aber auch sie verschwimmt, ist nicht mehr zu fassen, hat keinen Halt mehr.’ (142)
Nachdem alle Deutschen 1946 den Ort verlassen mussten, der nun unter polnischer Verwaltung stand, floh die Familie nach Celle, wo Dora, vermutlicherweise die Geliebte des Großvaters Api, ihnen einen großen Raum für sieben Personen zur Verfügung stellte. Das Kind Gila spürt das Unglück der Mutter (Großmutter Ami) und ihr Heimweh. Immer noch überschwemmen Flüchtlingsströme das Land, viele sterben auch jetzt noch, nach dem Krieg, an Hunger und Kälte.
Gila macht die Mittlere Reife, eine Kindergarten-Ausbildung und stellt sich ein anderes Leben vor. Aber nichts davon kann sie verwirklichen: in ihrer Stelle ist sie Kinder- und Hausmädchen und als sie mit 21 Jahren den 29-jährigen Hugbert heiratet, geht auch das schief. Sie wird in seinen Kreisen nicht anerkannt, sie fühlt sich kontrolliert und gegängelt, irgendwann nimmt er sich eine Geliebte und auch Gila hat später verschiedene Männerbekanntschaften. Das Leben ist ihr aus der Hand geglitten und sie wird depressiv.
Auch die Kinder kriegen mit, dass die Ehe ihrer Eltern ‘im Eimer ist’; die Autorin spürt die Verzweiflung ihrer Mutter und distanziert sich später verständlicherweise von ihr, um nicht selber in diesen unguten Sog zu geraten. Aber leider kann man das nicht komplett abschütteln und so versucht die Autorin durch dieses Buch ihren Frieden mit der Mutter zu machen und mit der Vergangenheit abzuschließen.
Hatte ich anfangs Schwierigkeiten, wegen der vielen Personen und der zeitlichen Versprünge ins Buch einzutauchen, nahm mich das Buch zunehmend gefangen, besonders der Teil, der in Schlesien spielt, eine für uns fremde, untergegangene Welt. Das weitere Leben der Mutter nach der Vertreibung fand ich etwas weniger interessant, vielleicht auch teilweise zu distanziert geschildert. Aber es scheint, als ob der Versuch der Autorin, das Verhältnis zur Mutter zu verarbeiten und mit den Geschehnissen abzuschließen, gelungen ist.
Die Sprache ist sehr unterschiedlich gestaltet: mal sachlich-einfach, mal mit einprägsamen Bildern und Gedanken:
‘Aber beide wirken seltsam durchsichtig, als ob sie sich allmählich in der Umgebung auflösen würden.’ (19) - ‘Wenn viele schweigen, ist das Schweigen lauter.’ (20) - ‘... wie die Gesichtszüge ihrer Mutter zerfließen… (105)
Wer Interesse an Familiengeschichten und Vergangenheitsbewältigung hat, der dürfte das Buch mit Interesse und Gewinn lesen. Bettina Flitner hat auch den Suizid ihrer Schwester viele Jahre nach dem ihrer Mutter in einem Buch verarbeitet, das ich auf jeden Fall auch lesen möchte.
Als die Fotografin und Autorin Bettina Flitner 2023 anlässlich der Lesung ihres Buches ‘Meine Schwester’ in Celle ist, besucht sie dort nicht nur das Grab ihrer Mutter, an die sie seltsamerweise lange nicht mehr gedacht hat, sondern auch das Haus ihrer Großeltern, wo sich jetzt Ämter der Stadtverwaltung befinden (‘in Büro-Kostümierung’, 26). Vieles ist noch da, auch Kleinigkeiten wie z.B. ein Türknauf. Das Ganze weckt Erinnerungen, auch, weil sie zufälligerweise kurz vorher von einer bekannten Fotografin Fotos ihrer Mutter (45 Jahre) aus dem Jahre 1982 bekommen hatte.
Es scheinen merkwürdige Familienverhältnisse gewesen zu sein, was schon bei der Beerdigung zu merken ist. ‘Sie hat nie etwas getaugt’, sagt der Großvater. Auch sind die beiden Schwestern nicht so traurig, wie man es erwarten würde. Die Mutter hatte sich mit 47 Jahren erhängt; leider folgte ihr viele Jahre später die Schwester der Autorin. Sie fragt sich: ‘Was ist eigentlich passiert? Warum? Wo ist der Ursprung für das alles?’ (19)
Der ‘Weg zurück, tief in die Vergangenheit, in die Welt meiner Mutter, meiner Großeltern, meiner Urgroßeltern’ (37).
Sie nimmt uns mit auf eine Reise in die Vergangenheit, nach Wölfelsgrund, Niederschlesien, das heute Międzygórze heißt und in Polen liegt. Ihr Buch beruht auf Gesprächen, aufgeschriebenen Erinnerungen, Briefen, Zeitdokumenten und eigenen Erinnerungen.
In diesem idyllischen Dorf, einst Luftkurort, das sich seit 140 Jahren, kaum verändert hat, wandelt sie auf den Spuren ihrer Vorfahren, die hier ein Sanatorium gegründet hatten. Dort wurde die Mutter 1936 als Tochter des Sanatoriumsarztes geboren, verbrachte ihre Kindheit in der Nazizeit. Dann brach die Katastrophe über alle herein: der Zusammenbruch, die Russen kommen, dann die Polen (die große Westverschiebung). Das alles spürte das niedliche verwöhnte kleine Mädchen Gila als namenlose drohende Gefahr. Sie hörte die Schreie der Frauen in der Nacht, Flüchtlinge überschwemmten das Dorf, ihr geliebter Bruder war gefallen und es gab viele Selbstmorde.
Langsam beginnen Autorin und Leser zu verstehen, was die Mutter als Kind miterleben musste und was sie wahrscheinlich für immer traumatisierte. Das vermittelt sie teils in nüchternen Worten, teils in bildhafter Sprache, z.B. auch, wenn sie den Kontrast zwischen malerischer Landschaft und Kriegsgräueln schildert: verstümmelte Soldaten, Menschen auf der Flucht, die nicht wissen, wohin (152).
‘Ein Gestern und ein Morgen gibt es nicht mehr. Die Vergangenheit hat sich losgerissen und flattert davon, bald wird sie vom Horizont verschwunden sein. Die Zukunft ist ausgelöscht, existiert nicht mehr. Alles ist jetzt Gegenwart. Aber auch sie verschwimmt, ist nicht mehr zu fassen, hat keinen Halt mehr.’ (142)
Nachdem alle Deutschen 1946 den Ort verlassen mussten, der nun unter polnischer Verwaltung stand, floh die Familie nach Celle, wo Dora, vermutlicherweise die Geliebte des Großvaters Api, ihnen einen großen Raum für sieben Personen zur Verfügung stellte. Das Kind Gila spürt das Unglück der Mutter (Großmutter Ami) und ihr Heimweh. Immer noch überschwemmen Flüchtlingsströme das Land, viele sterben auch jetzt noch, nach dem Krieg, an Hunger und Kälte.
Gila macht die Mittlere Reife, eine Kindergarten-Ausbildung und stellt sich ein anderes Leben vor. Aber nichts davon kann sie verwirklichen: in ihrer Stelle ist sie Kinder- und Hausmädchen und als sie mit 21 Jahren den 29-jährigen Hugbert heiratet, geht auch das schief. Sie wird in seinen Kreisen nicht anerkannt, sie fühlt sich kontrolliert und gegängelt, irgendwann nimmt er sich eine Geliebte und auch Gila hat später verschiedene Männerbekanntschaften. Das Leben ist ihr aus der Hand geglitten und sie wird depressiv.
Auch die Kinder kriegen mit, dass die Ehe ihrer Eltern ‘im Eimer ist’; die Autorin spürt die Verzweiflung ihrer Mutter und distanziert sich später verständlicherweise von ihr, um nicht selber in diesen unguten Sog zu geraten. Aber leider kann man das nicht komplett abschütteln und so versucht die Autorin durch dieses Buch ihren Frieden mit der Mutter zu machen und mit der Vergangenheit abzuschließen.
Hatte ich anfangs Schwierigkeiten, wegen der vielen Personen und der zeitlichen Versprünge ins Buch einzutauchen, nahm mich das Buch zunehmend gefangen, besonders der Teil, der in Schlesien spielt, eine für uns fremde, untergegangene Welt. Das weitere Leben der Mutter nach der Vertreibung fand ich etwas weniger interessant, vielleicht auch teilweise zu distanziert geschildert. Aber es scheint, als ob der Versuch der Autorin, das Verhältnis zur Mutter zu verarbeiten und mit den Geschehnissen abzuschließen, gelungen ist.
Die Sprache ist sehr unterschiedlich gestaltet: mal sachlich-einfach, mal mit einprägsamen Bildern und Gedanken:
‘Aber beide wirken seltsam durchsichtig, als ob sie sich allmählich in der Umgebung auflösen würden.’ (19) - ‘Wenn viele schweigen, ist das Schweigen lauter.’ (20) - ‘... wie die Gesichtszüge ihrer Mutter zerfließen… (105)
Wer Interesse an Familiengeschichten und Vergangenheitsbewältigung hat, der dürfte das Buch mit Interesse und Gewinn lesen. Bettina Flitner hat auch den Suizid ihrer Schwester viele Jahre nach dem ihrer Mutter in einem Buch verarbeitet, das ich auf jeden Fall auch lesen möchte.