Berührend, schockierend, zum Nachdenken anregend

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susank Avatar

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Auf einer Lesereise ihres ersten Buches entscheidet sich Bettina FIedler, spontan das Grab ihrer Mutter zu besuchen, zu der sie eine eher schwierige Beziehung verbindet. SIe beschließt, sich auf Spurensuche zu begeben, reist nach Schlesien, wo ihre Familie einst durch den Neubau einer Klinik ein ganzes Dorf namens Wölfelsgrund, dem heutigen Międzygórze, gegründet hat und schließlich nach Kriegsende alles aufgeben musste und in den Westen floh. FIedlers Mutter heiratete früh, bekam zwei KInder und führte eine unglückliche Ehe, bevor ihr Leben letztlich in einem Selbstmord endete Doch mit zunehmender Erkenntnis gelingt es FIedler, immer mehr Frieden zu schließen....

Die Kölner Fotografin Bettina FIedler hat sich auf Spurensuche in der Vergangenheit ihrer eigenen Familiengeschichte begeben; dazu reiste sie nach NIederschlesien, wertete Briefe, Aufzeichnungen und Tagebücher aus und erschuf dabei einen Familienroman, der zugleich auch Gesellschaftskritik und Heilung ist.

Flitner erzählt nüchern und authentisch, vermeidet es, über Gefühle zu schreiben und stößt immer wieder Gedankengänge an; bewahrt hat sie definitv auch ihren (schwarzen) Humor. Es wird deutlich, dass die Autorin nicht eine Geschichte erzählen will, sondern selbst auf der Suche nach Antworten ist, verstehen will, was passiert ist, was ihre eingene Geschichte prägte und was letztlich zum Suizid der Mutter führte. Dabei geht es lange Zeit gar nicht um das Leben ihrer Mutter, sondern fängt weit früher an, als die Vorfahren das Sanatorium und damit den Ort Wölfelsgrund gründeten, zahlreiche Privilegien hatte und schließlich von Verwöhnten zu sozialen Absteigern wurde.

Manche Absätze schockierten mich, etliche regten zum Nachdenken an, viele berührten mich sehr.
Insbesondere die Ereignisse um das Kriegsende 1945, die in der Geschichte oft verdrängt werden, sind absolut lesenswert. (Flitner berichtet u.a.vom grauen­erregenden „Celler Massacre Trial“. Kurz vor dem Einmarsch der Alliierten am 8. April 1945 wurde in Celle ein Zug mit 3.400 KZ-Häftlingen bombardiert, die Häftlinge aus dem KZ Bergen-Belsen, entweder in die Luft gejagt oder während ihrer Flucht durch Celle und Umgebung erschossen oder erschlagen. Alle Schuldigen kamen im Prozess als „unschuldig“ davon.)

Was eigentlich ein hochspannender autofiktionaler Roman hätte werden können, zerfällt leider sehr, da Flitner ständig springt zwischen Ort und Zeit, den Geschehnissen und eigenen Gedanken, Erinnerungen zahlreicher Personen, ohne dass diese gekennzeichnet sind. 316 Seiten sind in nur drei Kapitel aufgeteilt. Dies bremste ein wenig den Lesefluss und führt für mich zu einem Punktabzug in der Bewertung.

"Meine Mutter" ist definitv ein Buch, das noch lange nachhallt und viele eigene Überlegungen anstößt. Ich empfehle es - trotz verstörender Themen - unbedingt weiter.