Bewegend

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‚Sie hat nie etwas getaugt‘. Der erste Satz dieses Romans, bei der Trauerfeier für die durch Suizid verstorbene Mutter vom Großvater der Autorin geäußert, offenbart die unfassbare Kälte, in der die Mutter aufgewachsen sein muss. ‚Das sagte er wirklich, in diesem Moment‘, bekräftigt die Autorin einige Seiten später, sie selbst hatte es gehört. Die Töchter der Verstorbenen hatten die Beziehung zur Mutter verloren, deren Zuneigung war unzuverlässig. Trauern können sie kaum. Das Cover des Romans zeigt eine Frau, die zärtlich die Tochter umfasst, sich an ihr festzuhalten scheint, während das kleine Mädchen sich nicht ihr, sondern der Kamera zuwendet. Mutter und Tochter.
Die Mutter wurde 1936 in Niederschlesien, im heutigen Polen, geboren und wuchs in sehr guten Verhältnissen unbeschwert auf. Ihr Vater, ein angesehener Arzt, leitete das Sanatorium Wölfelsgrund, erst im März 1946 floh die Familie von dort. Doch schon vorher hatte die Welt der Frau, die die Mutter der Autorin werden würde, Risse. Sie war 8 Jahre alt, ‚als ihr Leben auseinanderbrach‘: Walter, ihr geliebter Bruder, war gefallen. Der sensible Walter, den der Vater demütigte, weil er stotterte, nicht den Ansprüchen genügte. Von ihm bleiben dem Mädchen ein Brief und ein Buch, beides bewahrte sie bis an ihr Lebensende auf. Das Mädchen Gisela, vorher im Mittelpunkt der Familie, wurde nun durch die Ereignisse des Krieges an den Rand gedrängt. Der Vater ein Opportunist, der sich nie für die Gefühle seiner Familie interessierte, der seinen Patienten gegenüber kein Mitgefühl aufbrachte, seine Frau betrog und stets wusste, wie man sich aus brenzligen Situationen herauswand. Nach der Flucht war der Neuanfang schwierig, Gisela war ein Flüchtlingsmädchen wie so viele. Sie war nicht sehr begabt, aber hübsch. Sie wurde umworben und heiratete bald, die Autorin und ihre Schwester wurden geboren. Doch auch hier genügt sie nicht. Die Mutter war labil, Trauer und Fröhlichkeit wechselten sich ab. Es folgten Affären, Trennungen. Die Töchter wurden mal mit Zärtlichkeit, mal mit Gleichgültigkeit behandelt. Im Alter von 47 Jahren nahm sich die Mutter 1984 das Leben.
Fast 40 Jahre später wird die Autorin mit der Vergangenheit konfrontiert: Ein großer Umschlag mit Fotos ihrer Mutter trifft bei ihr ein, die ein Fotograf damals aufgenommen hatte. Sie betrachtet die Bilder und fasst dann den Entschluss, dem Leben ihrer Mutter nachzuspüren und an den Ort zu reisen, wo diese ihre Kindheit verbracht hat. Vieles ist verbürgt, es gibt Tagebücher, schriftliche Zeugnisse, Gespräche mit denen, die die Mutter kannten. Aber die Autorin selbst nennt das Buch einen Roman, etwas Fiktionales.
Die Schreibweise ist betont sachlich, um Genauigkeit bemüht. Bettina Flitner sucht nach Spuren, nach Erklärungen, doch letztendlich gibt es nicht die eine Ursache für die Depression, der die Mutter schließlich erlag.
Ehrlich, nachdenklich, lesenswert.