Der Blick zurück

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pawlodar Avatar

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Dass Töchter gegenüber ihrer Mutter Vorbehalte hegen, sie auf Distanz halten, ist eine altbekannte Tatsache. Doch in Bezug auf das Verhältnis zwischen Bettina und ihrer Mutter Gila ist die Situation weitaus komplexer.

Während wir Auftreten und Verhalten anlässlich der Beerdigung noch unter jugendliches Protestgebaren verbuchen, dämmert dem Leser, welch tiefgreifende Probleme hier vorliegen, wenn er ein passent erfährt, dass die Mutter freiwillig aus dem Leben geschieden war. Ein kompliziertes Geflecht verwandtschaftlicher Beziehungen wird entfaltet, das sich für den Leser zunächst recht unübersichtlich und verwirrend darstellt.

Unvermittelt schließt sich an diese Szenerie die Schilderung der Kindheit dieser Mutter in ausgesprochen saturierten Verhältnissen in einer durch und durch bürgerlichen Existenz im räumlich und zeitlich so fernen Niederschlesien an. Doch deuten sich bereits hier feine aber prägnante Risse an. Die traumatische Vertreibung nach Kriegsende und Zusammenbruch des Naziregimes erklärt die seelisch instabile Konstitution der jungen Gila, deren Gaben und Lebenswendungen sie doch trotz allem für ein sorgenfreies und glückliches Leben zu prädestinieren scheinen.

Geschickt verknüpft die Autorin Bettina Flitner die verschiedenen Zeitebenen, was durch ihre berufliche Tätigkeit in Film und Fernsehen erklärbar ist. Eigenartige Zufälle sind es, die zu plötzlichen Entschlüssen und Unternehmungen führen, die ein spätes Verständnis für die emotionale Disposition der Mutter hervorrufen. Immer wieder klingt an, dass in dieser großen Familie der Selbstmord keine Einzelerscheinung ist. Ob es eine genetische Vorbelastung oder aber die Bürde des geschichtlichen Leides ist, die diese Hypothek begründet, bleibt im Dunkeln.

Im letzten Drittel dieses Textes kommt es zu bedauerlichen Längen, doch insgesamt setzt die Autorin ihrer Mutter und einer historischen Konstellation ein beeindruckendes Denkmal. Ein Familienstammbaum im Anhang hätte dem Leser die Lektüre erheblich erleichtert, doch es dominiert die beeindruckende Leistung, die ferne Vergangenheit mit den Erfahrungen der Gegenwart verknüpft zu haben.