entwurzelt

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brigitteb Avatar

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Wer war meine Mutter? Diese Frage stellt sich die Autorin urplötzlich, obwohl die Mutter schon seit Jahren tot ist. Die Leserschaft erfährt auf den ersten Seiten gleich direkt und ohne abfedernde Umschweife, dass sowohl die Mutter als auch die Schwester durch Suizid gestorben sind. Man erkennt bereits die gewählte Erzählsprache: direkt, ehrlich, sachlich und schonungslos. Alleine schon der erste Satz ist ein Fausthieb - mutig, diesen gewählt zu haben, auch wenn er nicht von der Autorin selbst stammt.

Zeitlebens hatte die Autorin zur Mutter ein distanziertes Verhältnis. Entrückt, unnahbar, dramatisch oder depressiv nahm sie diese wahr. Sie begreift, dass sie auf der Suche nach der Mutter die ganze Ahnenlinie freilegen muss, zurück bis zum Ursprung. Wir reisen in einen Luftkurort im heutigen Polen. Die Mutter lebte dort ihre ersten zehn Lebensjahre, damals gehörte die Region Niederschlesien zu Deutschland. Die Familie des Mädchens führte dort ein Sanatorium. Wir befinden uns in den Wirren des 2. Weltkrieges. Hunger, Verluste, Leid und schliesslich die Vertreibung nach Kriegsende prägten die Menschen, die sich entwurzelt und traumatisiert inmitten von neu gezogenen Grenzen fanden.

Mit viel Geschick entwirrt die Autorin eine sehr vorbelastete Familiengeschichte und beleuchtet parallel dazu das enorme Kriegsleid, das Millionen Menschen getroffen hat. Durch die nüchterne Sprache werden auch grausame Details des Krieges ohne Effekthascherei veranschaulicht. Besonders eindrücklich werden das Machtvakuum und die Orientierungslosigkeit in den ersten Tagen nach Kriegsende geschildert.

Ich habe den Roman innert Kürze gelesen und bin tief beeindruckt von der Offenheit der Autorin. Mit emotionsarmer Sprache werden hier umso mehr Emotionen geweckt. Bei diesem Inhalt, mit dem die Leserschaft hier konfrontiert wird, möchte ich noch anregen, dass das Anbringen einer entsprechenden Triggerwarnung sinnvoll gewesen wäre.