In einem Rutsch

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Das Buch „Meine Mutter“ hat mich aus verschiedenen Gründen direkt angesprochen: Da ist der Titel: das Verhältnis von Müttern und Töchtern ist häufig spannungsgeladen, häufig deswegen, weil die Töchter es ihren Müttern immer Recht machen wollen, und doch nicht können. Dann ist da das Coverbild: ein Bild aus den 60er Jahren, eine Zeit, die mich sehr interessiert: Neuaufbruch, Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, Kritik an der Elterngeneration, eine nicht unproblematische Generation an Heranwachsenden. Und letztlich war es dann das Thema, das den Ausschlag gab: eine Reise auf den Spuren der Familie in die Vergangenheit, eine Fluchtgeschichte, ein Trauma, eine Tragödie.
Und meine Erwartungen wurden in keinster Weise enttäuscht: Ich fing an zu lesen und konnte das Buch nicht aus der Hand legen, bis ich es ausgelesen hatte. Da ist die packende, dramatische Familiengeschichte der Autorin, die unter keinem guten Stern steht, sondern vielmehr unter dem Doppelsuizid der Urgroßeltern. Woher kamen sie, diese Stimmungsschwankungen, die auch die Mutter und die Schwester der Autorin leiden ließen? Stehen sie unter dem Eindruck dieses ersten Suizids? Welche Rolle spielen die Erfahrung von Krieg, Gewalt, Grausamkeit, Verlust der Heimat, Entwurzelung, Entrechtung? Da sind die vielen besonderen Familienmitglieder, die die Autorin nicht schont, aber zugleich auf eine liebevoll humorige Art darstellt, sodass der Leser die Figuren wohlwollend betrachtet, bisweilen bestaunt, bisweilen Empathie oder gar Mitleid empfindet, aber nie urteilt oder gar verurteilt. Er begibt sich mit der Autorin auf die Suche. Und da ist der packende Schreibstil der Autorin. Vermeintlich leicht liest sich auch das oft so Schwere, die bedrückenden Erlebnisse sowohl in ihrem Leben als auch im Leben ihrer Vorfahren schildert sie in einer unpathetischen, aber zugleich berührenden Sprache. Dazwischen immer wieder humorige Anekdoten vom Vater, der dänische Liebesfilme lustig synchronisiert, von der schrulligen Großtante mit dem Sprung in der Schüssel und tief Ergreifendes wie der Tod des großen Bruders, der Suizid der Mutter. Der Leser lässt sich gerne ein auf diese persönliche Lebensgeschichte, die zugleich doch auch ein Stück deutscher Geschichte und Mentalitätsgeschichte ist. Es ist eine Geschichte, in der einmal nicht die Frage nach Schuld und Verantwortung im Mittelpunkt steht, sondern der Versuch zu erforschen, kennenlernen, sich annähern und verstehen, den der Leser gut und gerne mitgeht. Ein sehr persönliches Buch und zugleich ein Buch, das einlädt, einem Prozess beizuwohnen und einen Blick in ein Familienleben zu werfen, das schon auch ungewöhnlich ist, zugleich aber auch Sinnbild für den Weg, den viele Familien im letzten Jahrhundert gehen mussten, wenn vielleicht auch nicht immer mit der letzten Konsequenz.