Zwischen Wahrheit und Fiktion

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Leerer Stern
lesefalter Avatar

Von

„In der Fiktion steckt oft mehr Wahrheit als in den Fakten.“

Tom Elmer, ein junger Rechtsanwalt, wird beauftragt, den Nachlass des bekannten, einflussreichen und todkranken Dr. Peter Stotz zu ordnen. Bei seiner Arbeit erfährt er immer mehr über das Leben seines Auftraggebers – und über die mysteriöse Frau, deren Porträts das gesamte Haus schmücken: Melody, die ehemalige Verlobte von Stotz, die kurz vor der gemeinsamen Hochzeit spurlos verschwunden ist.

Die Hoffnung auf ein gemeinsames Leben mit ihr hat Stotz nie ganz aufgegeben, auch wenn sie offiziell als verstorben gilt. Nach und nach fallen Tom einige Ungereimtheiten zwischen den Fakten und den Erzählungen des alten Mannes auf. Gemeinsam mit Stotz’ Großnichte Laura begibt er sich schließlich auf die Suche nach der Wahrheit über Melody.

„An sich ist der Tod nichts Schlimmes. Nur das Timing kann schlecht sein. Weißt du, wann es schlecht ist?“
Tom stand unbehaglich neben dem Pflegebett und sagte: „Nicht immer?“
„Nein. Wenn das Leben endet, bevor es abgeschlossen ist. Dann ist es kein Happy End. Ein glückliches Ende gibt es nur, wenn die Story in dem Moment endet, in dem der Protagonist das Ziel erreicht, das er verfolgt hat. Und nur dann. Merk dir das.“

Ob Peter Stotz sein Happy End bekommen hat?

Martin Suter schafft es auch in „Melody“, eine dichte, atmosphärische Stimmung zu erzeugen, die Leserinnen und Leser sofort in den Bann zieht. Seine Sprache ist ruhig und präzise, dabei aber so bildhaft und detailreich, dass man die Räume, Gesichter und Stimmungen förmlich vor Augen hat. Besonders gelungen ist die Art, wie Suter Realität und Erinnerung, Wahrheit und Wunsch ineinanderfließen lässt – manchmal weiß man selbst nicht mehr genau, was Fiktion und was Wirklichkeit ist.

Die Figuren wirken authentisch und nahbar, mit all ihren kleinen Macken, Unsicherheiten und Hoffnungen. Tom, der zunächst nüchterne Jurist, wächst im Laufe der Geschichte über sich hinaus, während Peter Stotz trotz seines Alters und seiner Gebrechlichkeit eine faszinierende, komplexe Figur bleibt. Auch Nebenfiguren wie Laura sind fein gezeichnet und tragen wesentlich zur Lebendigkeit der Geschichte bei.

Mehrere überraschende Wendungen sorgen dafür, dass die Spannung bis zum Schluss erhalten bleibt. „Melody“ ist kein Krimi im klassischen Sinn, sondern eine fein komponierte Mischung aus Liebesgeschichte, Mysterium und Charakterstudie – melancholisch, klug und berührend.

Martin Suter beweist, dass er ein Meister darin ist, die Grenzen zwischen Schein und Sein verschwimmen zu lassen – und dass hinter jeder Fiktion vielleicht ein Stück Wahrheit steckt.