Die Weltwirtschaftskrise und die Menschen

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern
lesemaus2018 Avatar

Von

Dieses Buch ist seit einiger Zeit mal etwas ganz anderes: Die vorgestellten Charaktere sind Menschen, die heute als Randgesellschaft gelten würden - zur dargestellten Zeit aber, dem Berlin der 1920/30-er Jahre, einen Gutteil der Bevölkerung ausmachten. Es ist die Zeit der Weltwirtschaftskrise, jeder muss um das tägliche Überleben kämpfen, so auch die Protagonisten:

Da ist der Bettler Fundholz und sein geistig eingeschränkter Begleiter Tönnchen, die sich ihren Lebensunterhalt erbetteln müssen. Fundholz geht bei der Auswahl seiner "Geldgeber" äußerst psychologisch vor und kennt sein Klientel genau. Beide werden vom gerade frisch entlassenen und frustrierten Grissmann angesprochen, der ebenso wie sein Umfeld die fortschreitende Industrialisierung und Automatisierung der Gesellschaft verflucht.

Dann ist da noch der im Krieg erblindete Sonnenberg, immer schon ein gewalttätiger Choleriker, den seine Erblindung aber noch grausamer gemacht hat und der seinen Zorn regelmäßig an seiner Frau auslässt - physisch und psychisch...

Und schließlich noch ein "gefallenes" Mädchen und eine traumatisierte Witwe, die den festen Glauben hat, dass ihr Mann zurückkehren wird.

Durch die Auswahl der vorgestellten Charaktere - Prostituierte, Arbeits- oder Obdachlose, Kriegsversehrte und geistig Eingeschränkte sowie die Schilderung ihrer individuellen Schicksale und ihres Umgangs mit ihrer Situation, vermittelt Ulrich Alexander Boschwitz sehr viel eindringlicher als jede Dokumentation ein realistisches und authentisches Bild dieser Zeit. Sie alle hat die Wirtschaftskrise hart getroffen und sie alle versuchen das beste aus ihrer Situation zu machen - manche kämpfen noch, manche stumpfen immer weiter ab.

Man fühlt sich regelrecht zurückversetzt in jene Zeit und ist gleichzeitig froh, dass es nicht so ist - angesichts der eingeschränkten sozialen Mechanismen, der Armut und Verrohung sowie des täglichen Überlebenskampfes. Eine lohnenswerte Lektüre, die nachdenklich macht und mir noch lange im Gedächtnis bleiben wird.