Grandiose Gesellschaftsstudie zum Berliner Lumpenproletariat der Zwischenkriegsjahre.

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elke seifried Avatar

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Schon der „Der Reisende“ von Ulrich Alexander Boschwitz hat mir eine großartige Gesellschaftsstudie geboten und deshalb habe ich mich sehr darüber gefreut, dass nun auch zum ersten Mal sein Debütroman „Menschen neben dem Leben“ auf Deutsch veröffentlicht wird. Ich wurde nicht enttäuscht, ich denke sogar, dass ich hier beim Lesen noch eine Schippe mehr an Begeisterung verspürt habe.

„Wenn sie morgens aus den Betten krochen, waren sie noch frisch und optimistisch und gingen Arbeit suchen. Waren sie aber den ganzen Vormittag vergeblich gelaufen oder kamen vom Stempeln, neigten sie mehr zur Melancholie. Dann saßen sie in den Parks und Anlagen und versuchten zu vergessen, dass sie arbeitslos waren. Sie wollten so tun, als seien Ferien, als wäre es ein Privileg, in der Sonne sitzen zu dürfen und nichts zu tun. Je nach Veranlagung gelang es ihnen mal besser, mal schlechter, sich davon zu überzeugen.“

Der Roman spielt im Berlin Anfang der 1930er-Jahre – ein Heer von Arbeitslosen, zahllose Prostituierte und Bettler prägen seit der Weltwirtschaftskrise das Stadtbild mit, kein Wunder, denn zwischen 1927 und 1932 steigt die Zahl der Arbeitslosen in Deutschland von etwa einer Million auf über sechs Millionen an. Und genau dort halten sich sie drei Hauptpersonen Bettler Fundholz, Tönnchen, ein traumatisierter „Schwachsinniger“, dem er sich angenommen hat, und der Arbeitslose und auf den großen Durchbruch als Kleinkrimineller hoffende Grissmann auf. Gekreuzt werden deren Wege durch weiteres, ebenfalls aus dem Takt geratenes „Menschenmaterial“, wie Prostituierte, Kriegsveteranen oder auch Kriegswitwen. Man darf mit ihnen den traurigen Alltag erleben und dann erfahren, warum sich alle abends im Fröhlichen Waidmann treffen. Der eine sehnt sich nach Liebe, der andere will nur ein bisschen Abwechslung und ganz viele wollen einfach nur ihre Alltagssorgen bei einem Gläschen Schnaps vergessen. Was dann aber werden kann, wenn man einem Anderen die Frau ausspannen will, zu viel Alkohol fließt und die Moral sowieso am Boden liegt, wird nicht verraten.

„Wo ehemals Hunderte von Arbeitern tätig gewesen waren, genügten nun einige vierzig. Man hatte ja Maschinen. Alle Probleme schienen sich herrlich lösen zu lassen.“, allerdings „Maschinen hatten nicht genügend Bedürfnisse, um den menschlichen Käufer zu ersetzen.“ Dem Thema Industriealisierung und Rationalisierung widmet sich Boschwitz von allen Seiten. Toll fand ich auch solche kleine spannende Einblicke wie „In den letzten Jahren waren überall moderne Automatenrestaurants aus der Erde gewachsen. [….] Ersparnis der menschlichen Arbeitskraft; keine Kellner mehr, sondern Automaten. Außerdem waren sie eine gelungene Spekulation auf den menschlichen Spieltrieb. Die Brötchen lagen appetitlich drapiert hinter den großen Glasfächern. Sie reizten zum Kauf und waren sehr billig. Für zehn Pfennig gab es sogar Kaviarbrötchen. Zwar war es kein richtiger Störkaviar, eher Lachsrogen, und das Brötchen war klein, aber die Kaviar- oder auch nicht Kaviarbrötchen sahen so appetitlich aus, dass jeder sie einmal versuchen wollte.“, vermitteln sie doch so viel vom Zeitgeist.

Pointiert und mit spitzer Zunge wird auch immer wieder ein Augenmerk auf die Kluft zwischen Arm und Reich gelegt, was ich äußerst gelungen finde. Da kann es schon mal heißen, „Um die Mittagszeit fuhren alle Direktoren und Direktörchen zum Essen. Sie hatten es eilig und zeigten es auch. Sie hupten und tuteten wild durcheinander und fraßen die Nerven der Leute, die zu Fuß gingen. Benzingestank und Auspuffgase verpesteten die Luft. Wie schön ist es, bequem in einem Auto zu sitzen. Hinten aus dem Auspuffrohr kommt der Qualm in schmutzigen Schwaden hervor. Man selbst sitzt vorne, man selbst merkt nichts davon, man selbst gibt Gas und braust davon. Nur die anderen, die Unbekannten, die Uninteressanten bekommen das Gas mit Luft vermischt in die Lungen.“ oder ein Fundholz kann sich beim Betteln denken, „Die Reichen hatten doch mehr Geld, als sie für ihre Leben brauchten. Die Armen rechneten mit jeder Mark. Aber eher bekam man von einem Armen fünfzig Pfennige geschenkt, als von einem Reichen zwei Mark.“

„Geraten aber schon Staaten mit unzähliger Vielfalt der Interessen mörderisch aneinander, und Millionen sehen in den anderen Millionen plötzlich den Alp auf ihrer Brust, wie viel leichter kollidieren da zwei Menschen? Zwei Menschen, deren Existenzbasis eine so schmale ist, deren Lebensfreude eine so geringe ist, dass die Furcht, sie zu riskieren, leicht vom Hass zur Seite gedrängt werden kann. […] Zwei geprügelte Menschen standen vor der Explosion. Sie explodierten gegeneinander. Sie sahen in sich gegenseitig den Todfeind. Den Feind, dessen bloße Existenz das Leben vergiftete. Sie lagen beide unter den Rädern des Lebens.“ Dass sich Deutschland und die Menschen zwischen zwei Weltkriegen befinden, wird ebenfalls mehr als deutlich, ja schon erschreckend zum Ausdruck gebracht.

Der Sprachstil, ist klar authentisch, ist er ja schließlich dieser Zeit entsprungen, nichtsdestotrotz liest sich der Roman äußerst flüssig. Dem Autor gelingt es Bilder im Kopf entstehen zu lassen und einen so richtig mit vor Ort zu nehmen. Er beschreibt mit vielen tollen Vergleichen, „Menschen, die morden wollen, ähneln gespannten Bogensehnen. Sie sind aufs Höchste konzentriert und bei der Sache. Alles Menschliche tritt in ihnen zurück, nur eins hebt sich aus ihnen heraus: der beabsichtigte Mord.“ und spielt mit Sprache, „Sein doppeltes Doppelkinn zitterte vor Aufregung.“. Zudem sorgt er mit seinen pointierten Formulierungen wie, „Auch in den schlechtesten Zeiten hat man sich noch nicht abgewöhnen können zu essen.“ und auch mit der einen oder anderen amüsanten Szene für viel Lesevergnügen. Da kann von einem Tönnchen, dessen Leben nur das Essen bestimmt, schon mal bei einer Unterhaltung über Literaten ein, „Schiller dachte er, wie das wohl schmeckt? Er hatte noch den süßlichen Geschmack von Walter Schreibers Backpflaumen im Mund.“, zu lesen sein. Das hat mir sehr gefallen, ebenso wie die Tatsache, dass Boschwitz darstellt ohne zu verurteilen, auch nicht, wenn sich menschliche Abgründe auftun.
Fundholz mochte ich von Anfang an gern. Arbeitslos geworden, aber seine Moral nicht verloren, fand ich toll, dass er selbst das Wenige, das er hat, noch mit Tönnchen teilt, könnte der alleine sicher nicht überleben. Für den egoistischen Kleinkriminellen „Grissmann ärgerte sich bereits, ihm das Geld gegeben zu haben. Jetzt muss ich wieder zwanzig Pfennig billiger essen, dachte er erbittert. Immer die verdammte, weiche Birne. Dabei verpflegt doch Fundholz den Idioten.“, konnte ich keine Sympathien entwickeln. Richtig ans Herz ging mir aber die Kriegerwitwe, die ihre Augen vor der Realität so komplett verschließt. „Wilhelm konnte gar nicht von einem Tage zum anderen gestorben sein. Das war unmöglich. Das war nur eine Intrige gegen sie, gegen Frau Fliebusch, geborene Kernemann. Und dass aus den sechzigtausend Mark, ihrem eingebrachten Heiratsgut, der Bruchteil eines Pfennigs geworden war? Nein, auch das war eine Intrige gegen sie, und das hatte sie dem Bankdirektor auch so gesagt.“ In Minchen, die alles andere als glücklich mit ihrem arbeitslosen Vater und den Männern, die ihr ein reiches Leben ermöglichen, ist, konnte ich mich richtig gut hineinversetzen. Sie ist wie die anderen Nebendarsteller gelungen gezeichnet.

Alles in allem begeisterte fünf Sterne, wie schade, dass kein weiteres Werk dieses Autors erhalten ist.