Kein Schicksal ohne Verluste oder nichts mehr zu lachen

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Als Wiederentdeckung wird der Roman von Ulrich Alexander Boschwitz angepriesen, tatsächlich ist er aber vor allem eine Entdeckung. Wie ein versunkener Schatz oder eine verlorene Perle. Und dies vor allem deshalb, weil in diesem Fund die Stimme eines Autors aus der Vergessenheit auftaucht. Eine gewichtige Stimme, die derartig klare und realistische Bilder entwirft, authentische Szenen beschreibt, so eindeutige Lebensweisheiten auftischt, Erfahrungen und Resümees vermittelt, dass einem vor Anschaulichkeit und Realitätsfülle geradezu der Atem stockt.

Sogleich möchte man mehr über die zeitgeschichtlichen Hintergründe erfahren. Wie war das Leben, wie sah es aus in den 1920er Jahren in Berlin? Im Nachwort des Herausgebers Peter Graf wird der Stummfilm aus dem Jahr 1927, „Berlin - Symphonie der Großstadt“ von Walther Ruttmann erwähnt. Dieser Hinweis trifft genau den Kern: Der Dokumentarfilm (u. a. auf YouTube) zeigt in starken Bildern die Lebens- und Arbeitsverhältnisse und damit die Stimmung jener Jahre.

Im Mittelpunkt des Romans „Menschen neben dem Leben“ stehen die Schicksale der Auf-Der-Strecke-Gebliebenen: Die ausgemusterten Arbeiter, Verkäuferinnen, die ausgestoßenen Kleinkriminellen, verachtete Zuhälter und Prostituierte, allemal die Vergessenen, die Kriegsversehrten des Ersten Weltkrieges und Opfer der Weltwirtschaftskrise. Einem Jeden ist etwas abhandengekommen. Irgendwann im Leben hat es einen Verlust gegeben. Dieser Einschnitt verlangte eine Neuorientierung. Aber nicht für jeden führte der Weg nach unten. Wer stark genug und klug war, konnte Pläne entwerfen und realisieren.

Der historische Blick auf die 20er Jahre ist in den Dialogen und Situationsbeschreibungen vorhanden. Parallel tauchen vergleichbare Bilder der Jetztzeit im Kopf der Lesenden auf. Denn obwohl der Text schon rund 90 Jahre existiert, sind alle Arten von Leiden, Gefühlen und Gedanken brandaktuell. Und der Stil des Autors ist modern. Nichts Staubiges, nichts Unreifes oder Unvollendetes. Einfach eine Geschichte mit viel Atmosphäre.

Beschrieben wird in erster Linie die Welt der Randgruppen. Neben den Ausgegrenzten und Verlorenen kommen natürlich auch die Bessergestellten im Roman zur Sprache. Dort, wo die Gegensätze, Arm und Reich aufeinanderprallen, macht sich Resignation breit. Dargestellt als Konfrontation anhand der westdeutschen Berlinbesucher Amtsgerichtsrat und Rechtsanwalt.

Der Roman "Menschen neben dem Leben" von Ulrich Alexander Boschwitz trifft den Nerv der Zeit, ohne zu übertreiben. Und er wirkt gerade dann so erschütternd, wenn es darum geht, die inneren Beweggründe der Protagonisten, ihre Brüche und gescheiterten Träume, die vergangenen Leiden, Irrtümer, Krankheiten und verpassten Lebensziele zu verdeutlichen.

Sein “Personal“ stellt der Autor nach und nach vor: von Fundholz und Tönnchen über Grissmann, Minchen Lindner, Frau Fliebusch, über den blinden Sonnenberg und seiner Frau Elsi sowie einigen anderen bis zum „Schönen Wilhlem“.

Man kann ihn gar nicht genug loben, diesen jungen Autor Boschwitz, der gut recherchiert haben muss. Als er den Roman schrieb, war er knapp über 20 Jahre alt. Erschienen ist das Buch erstmals in Schweden, wo Boschwitz als Jude auf der Flucht vor den Nazis vorübergehend lebte.

Alle Lesenden sollten sich darauf einstellen, dass sie auf rund 300 Seiten den Verlorenen mit ihren Ängsten und Nöten begegnen werden. Sie durchleben die Tagesabläufe der Protagonisten und erfahren viel über die Bedürfnisse und Verhältnisse in jener ungewissen Zeit.

Gerade in den brisanten Szenen der Auseinandersetzung hat der Roman seine stärksten Seiten. Das kommt eindrucksvoll im letzten Drittel zur Sprache: beim Tanzen und Trinken im Vergnügungslokal „Fröhlicher Waidmann“. Hier überschlagen sich die Ereignisse. Es geht um Leben und Tod, um gewalttägige Konfrontation, dem gegenseitigen Annähern und Verliebt-Sein, Flucht und Neubeginn.

Was macht den Roman so wertvoll? Ist es die Zeitreise? Sind es die klar gezeichneten Figuren? Oder ist es die Sprache des Autors?

Vermutlich sind es die Erkenntnisse, vom Schmerz und der Angst, dass Leben nicht immer gut ausgehen könnte. Kombiniert mit der Hoffnung, dass es aber auch nach dem Ende einer „Pechsträhne“ eine Zukunft gibt und „ein Gefühl der Freude“, wie Fundholz am Ende empfindet.
Darin steckt der menschliche Wunsch, dem Elend doch noch zu entkommen. Wer sich auf das Buch einlässt, wird nicht nur bereichert davongekommen, sondern auch viel gewinnen: das Vertrauen in die Kraft der Literatur.