Leben zwischen den Weltkriegen

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„In Köpenick hatte ein Mann seine Freundin erschossen, weil sie ihm untreu gewesen war. Grissmann verstand das. Er würde auch seine Freundin erschießen, wenn sie ihm untreu würde. Leider hatte er keine.“

Berlin während der Wirtschaftskrise. Die Stadt wird bevölkert von einem Heer der Abgehängten – Arbeitslose, Bettler, Kriegsveteranen, Prostituierte, Kleinkriminelle. Mühsam halten sie sich tagsüber über Wasser und strömen abends in „Den fröhlichen Waidmann“, um ihre Sorgen zu vergessen. Dort ergeben sich neue Möglichkeiten und die Situation zwischen dem blinden Bettler Sonnenberg und dem Arbeitslosen Grissmann eskaliert.

Bei „Menschen neben dem Leben“ handelt es sich um das Erstlingswerk des damals 22-jährigen Autors Ulrich Alexander Boschwitz, das nun nach seinem zweiten Werk „Der Reisende“ zum ersten Mal auf Deutsch erscheint. Boschwitz hat für sein junges Alter einen sehr reifen Blick auf seine Mitmenschen und fängt Zwischenmenschliches geschickt ein. Er nimmt seine Protagonisten ernst, begegnet ihnen aber trotzdem oft mit Humor und feiner Ironie. Der Schreibstil ist flüssig, so dass es Spaß macht, sich auf die anfangs etwas eigenwillig erscheinende Geschichte einzulassen.

Auch als historisches Dokument über das Leben der Berliner Unterschicht Ende der 20er/Anfang der 30er Jahre ist „Menschen neben dem Leben“ ein spannender Roman. Die Situation stellt sich für viele der Charaktere trostlos dar. Frauen haben nach wie vor kaum Rechte; auf der Straße regiert meist der Stärkere; ein Teil der Charaktere hat nach allen Entbehrungen sämtliche Hoffnung aufgegeben, andere sind nach Jahren der aufgestauten Wut bereit, über Leichen zu gehen. Erstmals erschienen 1937, blitzen innerhalb der Erzählung bereits erste Vorzeichen der Katastrophe auf, auf die das Land in den nächsten Jahren zusteuern wird. So kursieren auf der Straße zum Beispiel Gerüchte bezüglich der Freimaurer und der jüdischen Weltverschwörung.

„Menschen neben dem Leben“ eröffnet eine neue Perspektive auf das Leben zwischen den Weltkriegen und das Elend vieler Menschen, das letztendlich das Aufsteigen der Nationalsozialisten ermöglichte. Auch in der heutigen Zeit noch/wieder ein wichtiges Buch.