Sezierender Blick auf die gar nicht so Goldenen Zwanziger-Jahre

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bedard Avatar

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Selten habe ich mich so schwer getan, meine Eindrücke nach Beendigung eines Buches in Worte zu fassen.

Der Roman spielt im Berlin der 1920er-Jahre und beschreibt auf 300 Seiten einen Tag im Leben mehrerer Personen, die zu den absoluten Verlierern der Wirtschaftskrise gehören.

Da ist der alte Bettler Fundholz, der – obwohl selbst obdachlos – sich um den zurückgebliebenen, ewig hungrigen Tönnchen kümmert. Der blinde Kriegsversehrte Sonnenberg, der sich mit dem Verkauf von Streichhölzern über Wasser hält und seine Frau Elsi schikaniert und misshandelt. Dann der skrupellose Grissmann, der seit kurzem erst arbeitslos ist und der sich noch im freien Fall befindet. Und dann ist da die Witwe Fliebusch, die nicht akzeptieren kann, dass ihr Mann im Krieg gefallen ist und sie durch seinen Tod auch wirtschaftlich alles verloren hat.

Die Grundstimmung erinnert an die Bilder Heinrich Zilles und hat wenig mit dem Glanz der sogenannten Goldenen Zwanziger Jahre zu tun. Nüchtern und distanziert, aber auch humorvoll und voller Mitgefühl schildert der damals erst 22jährige Autor den Alltag seiner Hauptfiguren. Fast schon voyeuristisch blickt der Leser auf die Not des Bettlers, der voller Hoffnung auf eine Mahlzeit an Türen klingelt, seine Freude und seine Enttäuschung. Man hat teil an der aussichtslosen Situation von Elsi, die sich an ihren brutalen Ehemann gekettet fühlt und verzweifelt nach einem Ersatz sucht.

Am Ende dieses Tages treffen sie alle im Lokal Fröhlicher Waidmann aufeinander und hoffen, genug Geld zu haben, um einen Abend lang feiern zu können und ihr Elend zu vergessen. Für eine Weile entsteht eine fast entspannte, fröhliche Atmosphäre, die unweigerlich in einer Katastrophe endet.

Trotz der wirklich bemerkenswerten Beschreibungen der Figuren und der ungewöhnlichen Wechsel des Blickwinkels fehlt mir am Ende die Zusammenführung zu einem Ganzen. Stilistisch ist der erste Roman von Alexander Boschwitz ausgesprochen lohnenswert und sicher wäre noch viel von dem so jung gestorbenen Autoren veröffentlicht worden. Aber man merkt diesem Roman leider an, dass es sich um ein Frühwerk handelt.