Szenen aus dem Berlin der 1920er-Jahre mit interessanten Charakteren

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adel69 Avatar

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Worum geht es in dem Buch?

Im Berlin der 1920er-Jahre gibt es Menschen, die Geld haben, weil sie ein Geschäft und somit ein geregeltes Einkommen haben. Beispielsweise Walter Schreiber, der Obst- und Gemüsehändler ist. Er hat Besitz – also Ladenräume. Die Leute kommen zu ihm und kaufen Obst und Gemüse.

Andererseits muss er aber auch mit seinen Ausgaben vorsichtig sein. Er ist verheiratet, seine Frau ist krank. Mit ihr und den drei Kindern wohnt er in einer Zweizimmerwohnung. Wenn er es sich leisten kann, kauft er Fleisch für seine Frau. Er ist der Ansicht, dass Fleisch ein hochwertiges Nahrungsmittel ist und seine Frau gesund machen kann.

Im Berlin der 1920er-Jahre gibt es aber auch arme Menschen. Menschen, die irgendwie versuchen, zu überleben. Beispielsweise der alte Emil Fundholz. Er ist seit 20 Jahren geschieden und lebt auf der Straße. Immer wenn er Geld hat, kauft er sich Essen, aber auch alkoholische Getränke. Ohne sie kann er nicht sein. Aus einem Pflichtgefühl heraus kümmert er sich um „Tönnchen“, einen dicken Mann. Dadurch, dass Tönnchen in seiner Kindheit mehrere Tage eingesperrt war und Hunger leiden musste, hat er ein Trauma bekommen, ist zu einem Idioten geworden und isst seitdem sehr viel. Fundholz gibt ihm immer wieder Nahrung ab.

Als Fundholz die Gelegenheit sieht, einen Kellerraum bei Walter Schreiber zu mieten, ergreift er die Gelegenheit und mietet einen feuchten Kellerraum für sich und Tönnchen. Die beiden übernachten dort immer wieder – zu den strengen Bedingungen von Walter Schreiber.

Arm ist auch Grissmann, circa 30 Jahre alt. Er ist besser gekleidet als Fundholz, bekommt eine Arbeitslosenunterstützung und versucht, diese durch Geschäfte – sowohl legale als auch illegale – aufzubessern. Einst arbeitete er als Straßenbahnschaffner, hat aber seinen Job verloren, als auf einmal 20 Mark fehlten. Er wurde verdächtigt, dieses Geld unterschlagen zu haben. Seitdem lebt er auf der Straße und freut sich, wenn er wieder einen guten Einfall hatte, der ihm mehr Einnahmen beschert.

Sonnenberg ist blind und ebenfalls arm. Durch eine Verletzung im Ersten Weltkrieg hat er sein Augenlicht verloren. Seitdem ist er schlecht gelaunt. So schlecht, dass er immer wieder seine Frau Elsi schlägt. Sie ist nicht glücklich mit ihm und will ihn verlassen. Dazu hat sie allen Grund. Nicht nur seine Brutalität macht ihr zu schaffen, sondern auch die Tatsache, dass er seine Arbeitslosenunterstützung vertrinkt. Sie leben vom Verkauf von Streichhölzern auf der Straße. Außerdem kann Sonnenberg Harmonika spielen und ist ab und an als Straßenmusikant tätig.

Ebenso Frau Fliebusch wurde vom Schicksal hart getroffen. Sie hat viel Geld durch eine Wirtschaftskrise verloren und ihr Verlobter Wilhelm ist im Ersten Weltkrieg gefallen. Das ist eine Tatsache, die sie nicht akzeptieren kann. Sie meint, dass ihr Wilhelm noch lebe, dass alle Leute sie anlügen wollen. Deswegen liest sie auch keine Zeitungen mehr. In altmodischer Kleidung und mit zwei Koffern wandert sie verbittert durch Berlin. Jede Woche erhält sie zehn Mark Unterstützung von Frau Reichmann. Darüber freut sie sich aber nicht. Als sie eines Tages hört, dass ein Mann, namens Wilhelm, im Lokal „Fröhlicher Waidmann“ sein soll, glaubt sie, dass es sich um ihren Verlobten Wilhelm handelt. Und schon macht sie sich hoffnungsvoll auf in dieses Lokal.

Minchen Lindner ist eine junge Frau, die Glück gehabt hat. Einst war sie Verkäuferin in einem Laden, der bankrott machte. Der Direktor einer Firma, Herr von Sulm, holte sie von der Straße und finanziert ihr die Miete für eine Wohnung in Berlin unter der Voraussetzung, dass sie ihn immer wieder dort trifft. Das tut sie auch – und sie trifft auch noch andere ältere Männer, die sich einsam fühlen. Geld hat sie jetzt mehr, als sie ausgeben kann. Das weiß auch ihr Vater, der sie immer wieder um Geld anpumpt. Für ihn schämt sie sich. Er war einst Gerichtsvollzieher, ein angesehener Mann. Aber er arbeitete nicht immer korrekt, wurde erwischt und musste eine einjährige Gefängnisstrafe verbüßen. Seitdem zählt er zu den Armen und ruft ab und an seine Tochter an. Sie hat Erbarmen mit ihn und wird ihm Geld im „Fröhlichen Waidmann“ geben.

Meine Meinung zu diesem Buch:

Das Buch ist aus der auktorialen Erzählperspektive (also kein Ich-Erzähler) in der Vergangenheit verfasst. Von der Stimmung her erinnert es mich an Klassiker, wie „Menschen im Hotel“ von Vicki Baum und „Das Herz ist ein einsamer Jäger“ von Carson Mc Cullers. Beides sind Meisterwerke und auch „Menschen neben dem Leben“ kann durchaus als Meisterwerk angesehen werden.

Der Schreibstil gefällt mir, das Buch ist interessant. Es ist kein Pageturner – aber es ist faszinierend durch die verschiedenen – meistens tragischen - Charaktere und die Situationen, in die sie kommen. Als Leser will ich wissen, wie es mit ihnen weitergeht und ob sich ihre Lebenssituation ändern wird.

Fundholz beispielsweise finde ich bewundernswert – wie er durch die richtigen Taktiken an Nahrung kommt und dabei auch immer wieder Tönnchen mit versorgen kann. Tönnchen mag ich nicht immer, aber seine Vergangenheit weckt Mitleid. Grissmann ist ein listiger „Fuchs“, durch Unachtsamkeit hat er seinen Job verloren – aber er schlägt sich irgendwie durch das Leben. Es gibt Situationen, die er für sich ausnützen kann, die ihm zu Geld verhelfen, beispielsweise, als er einen älteren Mann erpressen kann.

Gut finde ich, dass in manchen Kapiteln auch einige Überlegungen des Autors zu damals aktuellen Themen genannt werden. So bringt er beispielsweise seine Ängste über Maschinen zu Papier, die menschliche Arbeitskräfte ersetzen und noch ersetzen werden. Oder er stellt Überlegungen zu Autos und Autoabgasen an, die nicht gesund sind.

Anfreunden muss ich mich mit altmodischen Wörtern, wie „Kiepen“ – das sind hohe Tragekörbe. Solche Wörter muss ich nachschlagen. Das ist aber nicht schlimm.

Einige dieser „Menschen neben dem Leben“ in diesem Roman treffen sich, kennen sich, unterhalten sich. Und einige von ihnen wollen den „Fröhlichen Waidmann“ aufsuchen. Weil sie dort etwas erledigen wollen oder Erwartungen haben.

Mein Fazit:

„Menschen neben dem Leben“ ist ein überraschend guter Roman aus dem Berlin der 1920er-Jahre, der für mich ein Meisterwerk darstellt. Das Buch hätte mir vorliegen sollen, als ich noch einen Literaturkreis der Volkshochschule besuchte, in dem wir über das Thema „Literatur über und aus Berlin“ sprachen. Es wäre ein toller Tipp für diesen Literaturkreis gewesen.

Ich vergebe fünf Sterne und empfehle das Buch weiter.