Auf Messers Schneide - Harry Hole am Scheideweg seines Lebens

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Auf dem Eyecatcher-Cover des im ullstein-Verlags erschienenen neuen Buches von Jo Nesbø ist der erste Buchstabe des Titels überdimensional wiedergeben, wobei sich bereits eine ganze Szenerie in diesem Versal abspielt: ein eisiges, steiles und schwer besteigbares Schneegebirge, ausgeleuchtet durch Tageslicht und Sonnenschein, wird nur allein von einem Rotfuchs einsam, Richtung Tal oder bergabwärts, durchquert, dessen Pfotenspuren (- es scheinen die Tatzenabdrücke des Tieres zu sein-) im hohen Schnee auftauchen und noch erkennbar sind, Spuren die der Wildhund selbst hinterläßt aber keine Spuren denen er folgt, wobei er und auch aus dem Schnee herauslugende, sehr dunkelgrau scharfkantige Felssteine Schatten werfen. Das v.a in der Farbe Weiß gehaltene „M“ hebt sich aus seinem schwarz und dunkelgrau-schraffierten Hintergrund klar hervor. Zwei Seiten dieses Anfangsbuchstabens sind jedoch nicht glatt und klar abgeschnitten sondern wirken eher unruhig und geheimnisvoll aufgrund ihrer nebulös aufgeschwaderten Ausformierung, wobei die Ränder dieses Aufrisses, etwas wolkig und feurigflammend oder auch eisflächenklirrend skizziert, leicht mit einem zarten Orangelachs eingefärbt sind bzw. dahingehend auslaufen.
NORWEGEN im März: Ein alter, durch Aphasie (Schlaganfall) motorisch eingeschränkter und sprechunfähiger Mann entdeckt aus einem Fenster beobachtend, -- von seinem alteingesessenen Laden namens „Simensen Jakt & Fiske“ aus, einem Geschäft welches wohl alles rund um Jagd- u. Angelausrüstung und Wanderausstattung für einen Naturausflug seit nun mehr 50 Jahren anbietet,-- im Gebirgsfluss Haglebuelva ein zerfetzes, verwittertes Kleid und sinniert stumm, aber geistig voll da, über sein eigenes hohes Alter. Auch wenn schon vieles nicht mehr in seinem Gedächtnis präsent sein mag - jedoch z.B. das Gesicht eines Kunden vergißt er nie.
Ein Kaufinteressent betritt die Laden-Szene und fragt den behilflichen Schwiegersohn Alf nach einer Wildkamera, da er Ausscheidungen von einem Bären in unmittelbarer Nähe zu seiner Waldhütte entdeckt haben könnte, und nun soll abgeklärt werden, ob der Bär lediglich vorbeizog oder sein Territorium bedenklich markiert. Sehr ungewöhnlich da es Bären nicht mehr so häufig gibt und die letzte einer tödlichen Bärattake im Jahre 1906 stattfand. Aber es ist nun die Zeit für Braunbären hungrig ihre Winterhöhlen zu verlassen.
Zeitgleich scheint sich der Alte so deutlich und detailiert an einen dramatischen Autounfall zu erinnern wie als würde er soeben passieren; er war dabei Augenzeuge wie ein großer Mann, mit auffälligen blauen Augen und einer Narbe, nach dem aktuell von der Polizei gefahndet wird, in den Strömen des Flußes und seinem ins Wasser eingebrochenen Wagen gefangen anscheinend ertrinkend zu Tode kam - oder ist der Unfall tatsächlich eben erst geschehen und der Fluß zog das Autowrack mit samt Passagier mit sich in die Fluten hinab? Derselbige hatte zweimal eine Wildkamera bei ihm erworben. Sollte es sich dabei gar um Harry Hole handeln?? der ja auch welche gekauft hatte um das Grundstück seiner in Trennung-lebenden Ehefrau absichern zu können, umtrieben von unbestätigter Gefährdungs-Annahme hinsichtlich eines berüchtigt und bedrohlichen Serienkillers?
Und wie genau kam eigentlich des Alten eigene Frau Olivia ums Leben? Sollte das eingangs erwähnte Kleid im Fluß gar von ihr stammen? Handelte es sich dabei um einen Unfall oder gar Mord?
In Kapitel zwei wird die Leserschaft Zeuge eines widerlichen Mordes an einer Frau (der gottseidank vor Vollendung mit der Schilderung abbricht, Danke an den Autor) durch den pervers-veranlagten Gewaltverbrecher und Wiederholungstäter, zu zwanzig Jahren Gefängnis Verurteilten, bereits 77jährigen Svein Finne. Ein verheiltes durch eine Kugel verursachtes, durchgeschlagenes Loch prangt durch eines seiner Hände – die Erinnerung einer Verfolgungsjagd mit einem Polizisten, Harry Hole?, welches ihn aber nicht weiterhin daran hindert, mit seiner perfiden Vorliebe für ausgewählte Messer dieses als sein verehrtes Tötungsutensil zu verwenden. Könnte es sich bei der Frau um Rakel handeln, der geliebten-ExEhefrau von Kommissar Harry Hole, dem der Täter Rache und Vergeltung geschworen hatte?
Kapitel 3 nimmt den Leser mit nach Oslo und stellt ihm Harry erstmals vor, der von den einst glücklichen Zeiten mit seiner Ehefrau Rakel und den an Sohnes statt angenommenen Oleg, den introvertierten ernsthaften Jungen der Österreicherin, träumt. Die wunderbare Beziehung scheint in traurige Brüche auseinander gegangen und zerbrochen, ausgelöst wohl von Harrys Ängsten und unheilversprechenden Vorahnungen gebeutelt und angetrieben. Bis heute macht ihm das sehr zu schaffen, zehrt an ihm und er kann es sich nicht verzeihen, sehnt sich ohnmächtig nach einer Aussöhnung und Wiedervereinigung mit seiner immer noch unbändig-geliebten Ehefrau von damals.
Erst kürzlich wieder rückfällig geworden in den Suff erwacht Harry und versucht verzweifelt, sich an die vergangenen Stunden zu erinnern, denn ihn irritiert das Blut an seiner Prothese, seinen Ersatz für den Mittelfinger, und es besagt wohl, daß er jemanden damit geboxt habe. Doch da ist nichts, es ist ein pures Blackout, nur mehr daß er in der ‚Jealousy‘-Bar war. Auch er hat eine leberfarbene Narbe im Gesicht wie der Mann in der Eingangsbeschreibung aus der Beobachtung oder dem Erinnerungsfetzen des alten Mannes heraus. Was hat das zu bedeuten?
Aber mittels eines Telefonates bestätigt ihm sein Arbeitskollege, der Kriminaltechniker Bjorn Holm, ihn total betrunken und von seiner geliebten Ex und seiner Nemesis Svein Finne faselnd zu Hause, seinem, abgesetzt zu haben, und es klärt sich die vergangene Nacht auf, Harry sei aus Frust mit dem Keipenwirt Ringdal in eine Rangelei geraten, daher das Blut. Früher schien er selbst mit seinen Kumpels diese Bar musikverliebt erfolgreich aufgezogen zu haben.
Wie diese Beispielssituation nur zu deutlich dem Leser bebildert, steht es um Harry Hole nicht gut, denn er ist abgebrannt und wie in einem Out-burn gekerkert. Er selbst scheint auf Messersschneide zu stehen und sein Leben in seiner Alkoholabhängigkeit und von Albträumen erschüttert nur mehr wie auf einem seidenen Drahtseilakt zu bewerkstelligen. Unsagbar fehlt ihm die so außergewöhnliche und erfüllende Liebe seiner Frau - ohne sie ist jetzt alles nur mehr sinnlos.
Während seiner aktiven erfolgreichen Polizeikarriere hatte er so einige Verbrecher hinter Schloß u. Riegel bringen können, aber immer noch nicht genug; weiterhin quälen und beschatten immer noch frei-umherlaufenden und aus dem Verborgenen handelnde, nie gefaßte Täter, neben deren und neue Opfer, sowie, die im Einsatz getöteten Kollegen, wie Geister der Vergangenheit, sein Gewissen.
Zum Oberwachtmeister herabgestuft erledigt Harry, der sich schwer im Griff hat, mittlerweile nur mehr vom Schreibtisch aus alte Akten, Cold Cases, oder, No-Brainer Fälle (also: sich selbst lösende, einfache Verbrechen). Allerdings ist der Ex-Kommissar, der während seiner Ehe als Dozent an der Polizeihochschule unterrichtete, trotz seiner desolaten seelisch-instabilen Lage immer noch mit höchstem Niveau bei seiner eingefleischten Tätigkeit bei der Sache: so löst er durch genaue Beobachtung und seinem untrüglichen kriminalistischen Instinkt folgend einen scheinbar bereits eindeutig geschlossenen Fall mit der nun zu einem Geständnis überführten wahren Täterin.
Doch seinem Nachnamen folgend fällt Harry nach solch einer Klärung und Festnagelung der Verbrecher stets selbst in ein erbittertes ‚Loch‘, in eine traurige Leere, denn ob der Erkenntnis und Einsicht in die Psyche der Menschen, die sich als Monster entpuppen, erfährt er nicht etwa Genugtuung sondern vielmehr maßlose Enttäuschung. Die Stellung des Täters nach der langen aufreibenden Hatz gibt ihm keine erleichternde Zufriedenheit oder Erlösung, sondern läßt ihn vielmehr zerrisssen in tiefeste Abgründe fallen, und, veranlaßt ihn erschreckende Parallelen zu Serientätern zu erkennen, denen es ja ähnlich zu ergehen scheint wenn bei diesen sich nach dem gewissen Höhepunkt des Mordes eine Antiklimax aufzutun scheint, der nur mehr mit erneuertem Jagdaufbruch und wiederholter grausamer Tötung entgegengewirkt werden kann.
Wie wird Harry Hole in seiner momentanten psychischen Verfassung nun auf das bestialische Vergehen an seiner geliebten Rakel reagieren, welchem er in seiner Vorsehung doch so verzweifelt zu entkommen suchte? Wird es ihm möglich sein, Vorwürfe, daß er es doch nicht verhindern konnte, beiseite zu legen, diesen seinen Teufelskreis zu verlassen, mit dem Verführer Alkohol endgültig zu brechen, um sich endlich voll und ganz auf Svein Finnes Zur-Fall-Bringung zu widmen? Wird dies sein Leben kosten? oder, erst wieder auferstehen lassen, da er ja bereits, seit er verlassen wurde, doch nur mehr tot als lebendig agiert? Wie wird sich Harry Hole am Sch(n)eidepunkt seines Lebens entscheiden - und wird es diesmal der richtige Weg sein?