Messerscharf kalkuliert

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singstar72 Avatar

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Selten habe ich eine Leseprobe vorgefunden, die so gut ausgesucht war! Zuerst dachte ich, meine Güte, die ist aber lang… doch sie ist perfekt gewählt. Sie endet mit genau dem Satz, der den Leser sprachlos zurücklässt. Damit hätte ich im Lebtag nicht gerechnet! Ich kenne Harry Hole schon seit Ewigkeiten, und verfolge die Aufs und Abs seiner Beziehung zu Rakel. Doch das es so endet… etwas in mir sträubt sich ja noch. Vielleicht ist es ja doch ein Missverständnis? Ein Trick?? Wie nur will der Autor in Zukunft auf diesen Motor seiner Harry-Hole-Romane verzichten…?? Mich jedenfalls hat immer auch die kraus verlaufende Beziehungskiste bei der Stange gehalten.

Doch zum Rest der Leseprobe! Wie immer ist der Schreibstil meisterlich, und ganz Jo Nesbo. Man findet eine Anfangsszene, die Rätsel aufgibt. Ein alter, und auch noch sprachloser (!) Mann beobachtet auf einem Monitor, wie ganz offenbar Harry Hole in einem Auto auf dem Grund eines Flusses landet. Es kann nur Harry sein! Doch dann wird das Auto von der Strömung mitgerissen. Und der alte Mann kann sich seinem Sohn nicht verständlich machen.

Doch die zeitliche Reihenfolge bleibt völlig im Unklaren. In der nächsten Szene erwacht Harry Hole in seiner Wohnung mit einem Mordskater. Aber – er hat Blut an der Hand und an der Hose… Stammt das wirklich von einer Kneipenschlägerei? Oder hat er sich aus dem Auto befreien können, und durch den Filmriss alles vergessen…?? (Bei Jo Nesbo halte ich mittlerweile alles, wirklich alles, für möglich!)

Dann haben wir in derselben Leseprobe noch zwei weitere Fälle. Einmal den Mörder Svein Finne, der drauf und dran ist, sich an einer Frau mit einem Messer zu vergehen. Sehr beeindruckend die Schilderung der diversen Schnittwerkzeuge und ihrer Charakteristika! Das Buch trägt seinen Namen wohl sehr zu Recht.

Der zweite Fall wird von Harry beinahe „nebenbei“ geklärt. Er befasst sich mit alten Fällen, die scheinbar aufgeklärt sind. Aber er traut dem Biedermann nicht, der seine Frau erstochen haben will… Etwas treibt ihn, noch einmal den Tatort aufzusuchen. Und prompt findet er hier den entscheidenden Hinweis, der seinen Verdacht auf die Tochter lenkt.

Ich muss schon sagen, ich habe mich an Carl Morck aus Kopenhagen erinnert gefühlt. Auch er wurde nach seinem schwierigen Verhalten „degradiert“ und mit alten Fällen betraut. Und auch er geht verbissen an diese Aufgabe heran – um nämlich aus der scheinbaren Erniedrigung doch noch einen Erfolg zu machen. Harry Hole geht es da ganz und gar nicht anders…

Zwei weitere Dinge haben mich an dieser Leseprobe begeistert. Die Kontinuität, die die Romane um Harry Hole auszeichnet. Er hat die Kneipe, die er erworben hatte, also wieder verkauft. Ich erinnere mich noch zu gut an die tragischen Geschehnisse aus „Durst“…! Er fühlt sich diesem Ort verpflichtet. So sehr, dass er dort wegen „schlechter Musik“ eine Schlägerei anfängt… Oh ja, die Musik war auch in vorigen Bänden ein Streitthema…

Wie Harry Holes Alkoholismus geschildert wird, fand ich ebenfalls beeindruckend. Sehr gut und glaubhaft beschrieben. Welche extremen Maßnahmen jemand ergreift, nur um seiner Sucht nachzukommen. Wie sich seine Wahrnehmung verschiebt. Wie das Umfeld damit umgeht. Einfach nur auf den Punkt getroffen!

Ich kann nur sagen, diese Leseprobe lässt keinerlei Wünsche übrig. Ich würde mir das Buch wahrscheinlich sowieso kaufen...