Perspektivlosigkeit, Hoffnungslosigkeit

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leseratte61 Avatar

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In einem Ort an der polnischen Grenze leben nach der Wende die Brüder Philipp und Tobias mit ihren Eltern. Es scheint mit der Familie aufwärts zu gehen, da wir den Hausbau und die damit verbundene Hoffnung erleben. Die Familie will endlich dem verhassten Plattenbau verlassen und baut gemeinsam an ihrem Traum. Die Freude, es endlich gepackt zu haben ist beim Einzug zu spüren.
Ob es reicht, dem Plattenbau zu entkommen, um mit der Vergangenheit abzuschließen?
Die Brüder wachsen in einem Umfeld auf, in dem es nach der Wende viele Veränderungen gibt. Fabriken schließen und werden später abgerissen, oder enden als Ruinen, viele Menschen werden arbeitslos, Familie brechen auseinander, soziale Kontakte brechen ab, in dieser Welt kann kaum noch Hoffnung auf Verbesserung bestehen. Leider herrscht auch in dieser Familie eine Sprachlosigkeit, die mich regelrecht schockiert. Da werden Themen, wie der Brand des Asylantenheimes in Hoyerswerda genauso unter den Teppich gekehrt, wie das Attentat auf das World Trade Center oder der Selbstmord des Kollegen. Diese Sprachlosigkeit ist auch eines der Probleme, die diese früher netten Jungs auf Abwege treibt.
Leider summieren sich die Probleme im Laufe der Zeit, ohne Hoffnung auf Besserung. Die Eltern gehen arbeiten, um das Haus zu finanzieren und die Jungen bleiben sich oft selbst überlassen. Die Schule meint es nicht gut mit den Jungs, für die dadurch schlechtere Jobaussichten bestehen. Der Vater trennt sich von der Familie und verliert nach und nach den Kontakt und Einfluss auf die Brüder. Die Mutter muss den Traum vom eigenen Haus begraben und wieder mit Tobias in einen Plattenbau ziehen. Irgendwann läuft dann das Fass über.
Philipp sucht sich schon früher als Tobias die Anerkennung der älteren, ehemaligen Schüler, die sich noch jeden Tag vor dem Schultor treffen. Nach und nach findet auch Tobias den Zugang zu dieser Truppe. Anfangs sind die Brüder noch fasziniert von den Sprüchen und einfachen Lösungen, die ihnen vorgegaukelt werden. Diese Wut auf die anderen, die ihnen das Wenige auch noch wegnehmen wollen ist schon seit langer Zeit in den Köpfen von Philipp und Tobias vorhanden, so dass sie nur noch herausgekitzelt werden muss. Natürlich sind auch die Gruppenaktivitäten, wie regelmäßige Treffen, Alkoholgenuss und anfangs eher dumme Streiche attraktiv. Philipp bricht dann aus der Gruppe aus und geht seinen eigenen Weg, Tobias bleibt der Truppe treu und verstrickt sich immer mehr in dem Sog der rechten Szene. Als dann Flüchtlinge in der Schule untergebracht werden sollen, gibt es nur noch ein Ziel: Der Feind muss vernichtet werden, die Schule soll brennen.
In sehr nüchternem Schreibstil, an den ich mich erst gewöhnen musste, beschreibt Lukas Rietschel, den Werdegang der Brüder. Mancher Leser mag sich fragen, ob andere Kinder nicht in ähnlichen Verhältnissen aufwuchsen und trotzdem aufrechte Erwachsene geworden sind. Dem kann ich nur teilweise zustimmen, da die Verhältnisse in der DDR nicht mit dem Leben im Westen vergleichbar waren. In der DDR war der Lebensweg der einzelnen Menschen schon sehr früh vorgegeben und blieb dementsprechend immer überschaubar. Plötzlich mussten sich die Menschen - nach der Wende - um viele Dinge kümmern und bemühen, die ihnen fremd waren. Viele sogenannte Helfer haben diese Hilflosigkeit schamlos ausgenutzt. Erschwerend kam noch dazu, dass DDR-Bürger von staatlicher Seite immer unterdrückt waren und nie gelernt haben, offen und ohne Angst über Probleme zu reden und Lösungen zu finden. Plötzlich war die ersehnte Wende da und es wurde viel versprochen. Leider wurde viel zu schnell vergessen, dass die Menschen der DDR erst mal lernen mussten, mit der Freiheit und der anderen Gesellschaftsform umzugehen. Eigenverantwortliches Denken war ihnen bis dato in vielen Bereichen fremd. Wie sollten sie dann dieses fremde Denken an ihre Kinder weitergeben?
Der Autor beschreibt mit seinem Werk ein Leben in einem Umfeld, dass erstmal völlig normal scheint. Nach und nach brechen dann die Wunden, die durch ein Angstregime erzeugt wurden auf. Leider konnten diese Wunden nie richtig heilen, da die Menschen nach der Wende von der neuen Welt und deren Anforderungen regelrecht erschlagen wurden, ohne Zeit und Hilfe, sich an die neuen Anforderungen zu gewöhnen. Die Ängste der damaligen Generation spiegelt sich dann im Verhalten der Kinder wider, die krampfhaft Halt und Hilfe suchen.
Für mich war dieses Buch außergewöhnlich, schonungslos und ehrlich. Nachdem ich mich an den Schreibstil gewöhnt hatte, wollte ich schnell weiterlesen, um den Werdegang der Brüder zu verstehen. Ich bleibe betroffen zurück und empfehle, dieses Buch zu lesen, um zu verstehen.