Mascha, wo bist du?

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Die Ich-Erzählerin liebt kleine Häuser am liebsten mit Reetdach, Kaffee und die Gedichte von Mascha Kaléko. Diese stellt sie jedem Kapitel ihrer Lebensgeschichte motivisch voran und nutzt sie weniger zum Dialog mit der Dichterin als zum Monolog, mit dem sie der Dichterin und dem Leser ihr Leben für die Füße schüttet. So muss man es fast sagen. Denn motiviert von einem ihrer Gedichte oder einem Vers darin, macht sich ein Wortschwall Luft, bricht es aus der Erzählerin heraus. Ihr Leben bisher, liebevolle Kindheit, plötzlicher Liebesverlust, Systemsprengerin, mit 14 raus aus dem Heim und als Punk auf der Domplatte, sexualisierte Gewalt, Missbrauch, dann die Kehrtwende, Buchhändlerlehre, und, sie glaubt es selbst kaum, doch noch das Abitur und dann das Studium. Bücher waren der jungen Treberin ohne Zuhause immer so etwas wie Heimat. Als sie während der Buchhändlerlehre im Antiquariat auf Kalékos Gedichte stößt, scheint sie eine Seelenverwandte gefunden zu haben. Sie findet in ihren Gedichten, in denen sie, ganz dem neusachlichen Programm entsprechend, die Themen des menschlichen Lebens und Alltags im Sinne der Gebrauchslyrik in wohl verständliche, zugleich aber sehr ergreifende Worte packt. Bei aller Bewunderung ist sich die Erzählerin zugleich bewusst, dass ihr Ausdruck eher das Pathos ist. Sie ist in allem, was sie tut, leidenschaftlich, vor allem leidenschaftlich wütend, panisch und liebend. Das sind die drei Grundmotive ihres Lebens, die sich wechselseitig bedingen.
Mit schonungsloser Offenheit lässt sie den Leser immer tiefer in die Abgründe blicken. Beginnt zunächst alles ein wenig harmloser mit ihrer Vorliebe für kleine Reetdachhäuser, weil diese eine glückliche Kindheit symbolisieren, so führt ihr Weg dann bald in die abgeranzten Wohnungen wenig vertrauenerweckender Punks, die ihre Unsicherheit, Suche nach Nähe sowie auch ihre Trunkenheit nutzen, um sie zu missbrauchen. Drogen kommen ins Spiel und Obdachlosigkeit. Auch am Ende, als sie die Liebe gefunden zu haben scheint, lässt das miese Schicksal sie nicht los. Nun heißt ihr Gegner die Diagnose Krebs bei ihrem Mann.
Bisweilen wird es dem Leser ein bisschen viel, das Pathos, das Drama und auch die Ambivalenz von Geliebt und Verlassen Werden, von Angst und Furchtlosigkeit, die manchmal in verwirrender Weise koexistieren. Man erahnt hinter den Zeilen der Erzählerin die Autorin selbst, wenn man das annehmen darf, und bewundert sie für ihre Ehrlichkeit und Bereitschaft zur Selbstpreisgabe. Mir allerdings stellt sich auch die Frage, ob man den Gedichten wirklich gerecht wird, wenn man sie als Anschubser für die eigene Lebensdarstellung nimmt. Natürlich darf jeder diese Texte subjektiv lesen. Mir aber fehlt bei all dem „du, Mascha“ eben diese Mascha. Wer die Dichterin, ihr Werk und ihr Leben nicht kennt, bekommt immer nur einzelne Brocken hingeworfen, die aber sofort in der Gleichsetzung mit dem doch so anderen Leben der Erzählerin verschwinden. Bei aller Seelenverwandtschaft sind die Lebensthemen doch sehr verschieden und schwer vergleichbar.