Ein Wettlauf gegen die Zeit

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Dies ist der zweite Fall für die zierliche Deutschchinesin Dr. Sabine Yao. Sie ist stellvertretende Leiterin der Rechtsmedizin beim Berliner BKA. Ihr Vorgesetzter Prof. Paul Herzfeld und sie arbeiten zusammen bei der Spezialeinheit »Extremdelikte«. Bei diesem Rechtsmedizin-Thriller handelt es sich um die fiktionale Erzählung eines echten Kriminalfalls.

Wir erfahren zunächst von zwei entstellten Toten, die im Wald an einem Gestell ähnlich einem Galgen hängen. Außerdem wird von einem Einsatz eines SEK-Kommandos berichtet, das irrtümlich in eine falsche Wohnung eindringt und ein altes Rentnerehepaar zu Tode erschreckt. Später im weiteren Lauf steht bei der Spezialeinheit »Extremdelikte« der Tod des ehemaligen Polizeipräsidenten von München auf der Tagesordnung. Was hat das mit dem eigentlichen Fall zu tun, gibt es überhaupt Zusammenhänge? Werden wir mehr darüber erfahren?

Hier soll wohl die Arbeit der Rechtsmedizin thematisiert werden. Der Autor lässt uns wieder einen ausführlichen Blick hinter die Kulissen der Rechtsmedizin werfen, in vielen Fällen für mein Empfinden zu ausführlich, was zu einem Spannungsabfall führt (Bsp.: detaillierte Beschreibung von Sabine Yao, wie und warum eine Tür zum Sektionssaal so und nicht anders geöffnet wird). Spannung kommt erst seit gefühlten 130 Seiten auf – zu wenig für einen Thriller.

Bei dem Fall, um den es hier geht, ist ein kleiner Junge aus der High-Deck-Siedlung in Berlin-Neukölln verschwunden. Berlins schlimmste Siedlung entstand in den 1970er und 1980er Jahren im Rahmen des sozialen Wohnungsbaus und ist ein Brennpunkt. Der achtjährige Yasser Khaleb lebt dort zusammen mit seiner Mutter, offensichtlich sind sie nicht gemeldet bei den Behörden. Deshalb beauftragt Yassers Mutter den jordanischen Ex-Geheimdienstler Hassan Khalaf mit der Suche nach ihrem verschwundenen Sohn. Wie es zu diesem Kontakt kam, bleibt ungewiss.

Als Hassans Nachforschungen mehr oder weniger ins Leere laufen, beauftragt er Yassers Mutter, die Polizei einzuschalten.

Es wird deutlich, dass Tsokos Wert darauflegt, seine Figuren präzise zu beschreiben. Für ihn ist Hassan Khalaf ein arroganter und überheblicher Einzelgänger. Er hat keine Familie, das würde ihn verletzlich und angreifbar machen. Die Darstellung des skurrilen Rechtsmediziners Oberarzt Dr. Martin Scherz hat mir gefallen. Das Verhältnis zwischen Sabine Yao und ihrer Schwester Mailin kommt wie im ersten Band zur Sprache. Mailin ist weiterhin sehr labil und hatte schon einmal Alkoholexzesse, Wutausbrüche, autoaggressives Verhalten mit Verletzungen bis hin zu einem Suizidversuch.

Aber muss man Charakteren wiederholt Adjektive wie die »italienischstämmige Ermittlerin« (Kommissarin Monica Monti) oder der »ehemalige jordanische Geheimdienstler« (Hassan Khalef) zuordnen? Das ist nervig.

Wir bekommen einen Einblick in die vielfältigen Aufgaben der Kriminalistik und der Kriminologie. Sei es aus dem Bereich der Rechtsmedizin, der filigranen Arbeit im Sektionssaal, der Lageeinsatzbesprechung der Kriminalpolizei oder der operativen Fallanalyse. Das ist zwar interessant, lässt aber weniger Spielraum für Thrillersequenzen.

Fazit:

Was ist der Modus Operandi? Das wurde zum Ende hin kurz angerissen. Auch die anfangs erwähnten Fälle werden noch einmal aufgegriffen, um sie aber schnell abzuhandeln.
Dass mit Prof. Dr. Michael Tsokos eine Koryphäe auf dem Gebiet der Rechtsmedizin schreibt, ist unverkennbar. Bei einem Thriller erwarte ich allerdings mehr Spannungsmomente zum eigentlichen Fall.
Die Kapitel sind mit wenigen Ausnahmen kurzgehalten und enden mit einem Cliffhanger, um im folgenden Kapitel unmittelbar eine Fortsetzung zu finden. Die Kapitel bestehen aus zwei Handlungssträngen, die zum Ende hin zusammengeführt werden. Plot-Twists gab es allerdings so gut wie keine.
Mit dem Begriff »Kalkül« im Titel kann ich nicht viel anfangen. Wo und durch wen liegt hier die Berechnung?
Dieses Buch fällt ab gegenüber dem ersten Band »Mit kalter Präzision« und konnte mich nicht überzeugen. Um es auf den Punkt zu bringen: Zu wenig Thriller, zu viel Rechtsmedizin. Ich vergebe daher nur 3 Sterne.