Glaube vs. Identität

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»Jesus war eine Droge, die sofort abhängig machte und trotzdem unbedenklich war. Wer einmal von ihm gekostet hatte, der wollte mehr von seinem süßlichen, köstlichen Nektar.« (S. 13)

Die Geschwister Esther und Ben entstammen einem sehr christlichen Elternhaus — die Eltern sind Teil einer überkonfessionellen Freikirche. Selbstverständlich sind die Kinder dann auch Teil der Gemeinde. Von Kindheit an werden die beiden durch die Bibel und die Glaubensgemeindschaft geprägt. Die Gemeinde wirkt auf den ersten Blick offen und tolerant – eine ansprechende Social Media Präsenz und ein Pastor, der modisch komplett im Trend ist, sprechen dafür. Mit zunehmendem Alter wird es für Esther und Ben allerdings schwieriger, den Anforderungen der Gemeinde zu entsprechen. Während Esther mit dem »Frauenbild« der Gemeinde hadert und sich nicht richtig entfalten kann, steht für Ben fest, dass er seine Sexualität im Verborgenen ausleben muss, um nach außen freikirchenkonform zu wirken.

»Wenn Esther an ihr Zuhause dachte, dachte sie nicht an ihre Wohnung oder ihr Elternhaus, sondern an die Gemeinde.« (S. 32)

An vielen Stellen wird deutlich, wie sehr die Geschwister mit ihren Ansprüchen an das eigene Leben struggeln. Die Gemeinde hat andere Ziele für das Leben der Mitglieder. Deren individuelle Vorstellungen und die Vorstellungen der Gemeinde passen oft nicht zusammen. Durch den Versuch beides miteinander zu vereinbaren, kreiert Caroline Schmitt komplexe Figuren. Esther und Ben passen von Seite zu Seite immer weniger in das religiös-gläubige Konstrukt der Freikirche. Außerdem verliert die Freikirche mit zunehmendem Lesefortschritt auch mehr und mehr an Attraktivität. Zu Beginn lockt die Gemeinde mit gemütlichen Ausflügen, am Ende offenbart sich eine radikalisierte und somit sehr intolerante Strömung, die innerhalb der Gemeinde herrscht.

Sensibel schreibt Caroline Schmitt über ein wichtiges Thema unserer Zeit. Durch Christfluencer:innen wird religiöses Gedankengut zum viralen Trend. Die Autorin verzichtet in ihrem Buch allerdings auf Wertungen. Die Leser:innen müssen selbst entscheiden, wie (un-)behaglich sie die Lektüre finden. In meinen Augen agieren Esther und Ben nachvollziehbar, die Schilderungen lassen eine intensive emotionale Nähe zu und es wird verständlich, wieso die Gemeinde für die beiden so essentiell ist, trotz einschnürendem Wertekorsett.

»Zum Glück war Christsein kein Sprint, sondern ein Marathon. Zum Glück wusste Gott, dass Ben nicht perfekt war. Zum Glück hatte Gott ihn trotzdem erwählt.« (S. 14)

Wer sich auf literarischer Ebene mit Macht- und Gruppendynamik innerhalb einer religiösen Institution befassen will, der ist mit »Monstergott« sehr gut bedient.