Hinter der Fassade der Freikirche

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seitendreherin Avatar

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Wie gläubig seid ihr? Ich bin selbst nicht wirklich gläubig aufgewachsen und gerade deswegen fand ich „Monstergott“ von Caroline Schmitt vermutlich auch so gut.
Das Buch erzählt die Geschichte der Geschwister Esther und Ben, die in einer evangelikalen Freikirche groß werden. Dort ist die Gemeinde nicht nur ihr Ort des Glaubens, sondern auch Familie, Freundeskreis und Freizeitbeschäftigung. Für sie ist die Gemeinde alles: Familie, Freundeskreis, Freizeit, Lebensinhalt. Der Pfarrer trägt Sneaker, nach außen wirkt alles modern, jugendlich, fast schon einladend. Doch unter dieser glänzenden Oberfläche beginnt es bald zu bröckeln.
Bei Esther und Ben schleichen sich Zweifel ein, ganz leise zuerst, aber stetig. Fragen, die man eigentlich nicht stellen darf: Was, wenn das Leben mehr bereithält, als streng nach Regeln zu funktionieren? Was, wenn Bedürfnisse und Wünsche nicht automatisch Sünde sind? Der zaghafte Wunsch, ein Leben außerhalb der Regeln zu führen, die Sehnsucht nach Freiheit und die Frage, ob diese Gemeinde wirklich Halt gibt oder doch nur fesselt.
Die Kapitel werden abwechselnd aus Esthers und Bens Perspektive erzählt. Esther kämpft mit der Rolle der Frau in der Gemeinde, in der es klar heißt: Frauen haben in Leitungspositionen nichts verloren. Der Pfarrer lässt daran nicht rütteln. Ben dagegen wird immer tiefer in sehr fragwürdige Männerrituale hineingezogen: Treffen im Wald, Übungen, die ihn „reinigen“ sollen, damit er keine „falschen“ Gedanken hat. Hier zeigt sich deutlich, wie toxische Männlichkeit und patriarchale Strukturen in religiösen Systemen verankert sein können.
Ganz toll fand ich auch die Eltern von Ben und Esther. Sie sind warmherzig, unterstützend und wirken wie ein Anker in dieser strengen Welt.
Caroline Schmitt wagt sich mit diesem Buch an ein selten behandeltes, sensibles Thema. Sie erzählt respektvoll, ohne ins Lächerliche zu ziehen, und stellt dennoch die entscheidenden Fragen: Wie sehr darf Glaube unser Leben bestimmen? Wo kippt er in Machtmissbrauch? Und was braucht es, um sich von einer Identität zu lösen, die von klein auf eingeprägt wurde?
Nach „Liebewesen“ wieder ein tolles Buch von Caroline Schmitt, das ich euch nur empfehlen kann.