Hippe Freikirche - veraltete Probleme

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gaia Avatar

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Die Geschwister Esther und Ben wachsen (in Deutschland!) in einer evangelikalen Freikirche auf, die mit hippen Social Media-Beiträgen punktet, Gottesdienste mit vielen groovigen Songs untermalt und in der die Menschen Jesus scheinbar so nahe kommen, dass sie sogar ekstatisch in Zungen sprechen. Das wäre ja alles schön und gut, wenn nicht dieselbe hippe Kirchengemeinde in tradierten Vorstellungen zu Geschlechterrollen und sexueller Orientierung feststecken würde. Esther möchte in der Gemeinde mehr Aufgaben übernehmen, darf aber nicht, weil sie nun einmal eine Frau ist, und Ben hat sexuelle Bedürfnisse, die in der Gemeinde einfach nicht existieren dürfen.

Ich sage gleich vorweg, was dieses Buch glücklicherweise nicht macht: Es führt uns nicht ein zackiges, weltliches Erweckungserlebnis vor, durch welches sich unsere beiden Hauptprotagonist:innen, denen wir in stets wechselnden Kapiteln auf ihrem Weg begleiten, einfach mal eben so von ihrer Kirche und ihrem Glauben abwenden, weil das ja alles sowieso Blödsinn und nicht mehr modern ist. Nein, wir verfolgen in diesem zweiten Roman von Caroline Schmitt, die bereits mit ihrem Debüt „Liebewesen“ ein hervorragendes literarisches Werk vorgelegt hat, zwei Personen, die zunächst einmal ganz stark mit sich selbst hadern. Mit ihrer Identität und ihren Wünschen. Denn wenn das eigene Koordinatensystem schon in der Kindheit festgezurrt wurde und sich fast alle sozialen Kontakte auf eine eingeschworene Gemeinde begrenzen, fragt man sich doch automatisch erst einmal, was mit einem selbst denn falsch läuft. Gerade Ben, der nie etwas anderes gelernt hat, als dass jegliche von der heterosexuellen Norm abweichende Tendenzen des Teufels Werk sind, kommt mit sich selbst und seinem Leben immer weniger klar. Bereits in der Eingangsszene erleben wir etwas, was unzählige Male pro Tag Menschen in gewissen Glaubensgemeinschaften angetan wird, die nicht dieser Norm entsprechen: Eine Dämonenaustreibung. Es sollte bekannt sein, dass bei solche bestialischen Praktiken bereits Menschen ums Leben gekommen sind für den Glauben.

In klarer, ungeschönter Sprache lässt und Schmitt mit dem Geschwisterpaar fiebern. Bei Ben sogar im wahrsten Sinne des Wortes. Sie legt zunächst einmal offen, dass es diese Freikirchen, die ich ehrlich gesagt bisher nur aus englischsprachigen Ländern kannte, auch in Deutschland gibt und dass diese Kirchen durch ihre Soziale-Medien-wirksame Inszenierung an Popularität gewinnen. Zum anderen zeigt Schmitt, wie stark hier ein Geschäft mit Ängsten und Hoffnung gemacht wird, wie Glauben kommerzialisiert wird und mit wie viel Unkenntnis und Naivität die Bibel wörtlich genommen wird, ohne Kritik zuzulassen. Auf den nur 260 Seiten destilliert die Autorin eine spannende und lehrreiche Geschichte zusammen, die die Augen öffnet für eine Parallelgesellschaft, die sich bisher vollkommen aus dem modernen, gesellschaftlichen Diskurs herausnimmt und im Gegenteil immer radikaler zu werden scheint.

Ich bin absolut begeistert. Was Caroline Schmitt bei mir mit ihrem Debüt bereits begonnen hat, führt sie nun weiter: Leserinnenbindung! ;) Ich würde ungesehen jeden folgenden Roman von ihr lesen wollen und bin gespannt darauf, welchem Thema sie sich als nächstes annimmt.

4,5/5 Sterne