Interessante Neuversion eines Klassikers

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singstar72 Avatar

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Mancher Leser mag sich fragen, ob die Referenzen zu Agatha Christies Klassiker "Mord im Orient-Express" zufällig sind. Sind sie nicht. Die Autorin hat dieses Buch ganz bewusst an das berühmte Vorbild angelehnt. Einer der Passagiere hat sogar ein Taschenbuch des "Orient-Express" dabei, was doch schmunzeln lässt. Alexandra Benedict hat aber nicht einfach eine Kopie abgeliefert, sondern das Thema "Mord im liegengebliebenen Zug" interessant variiert, und um aktuelle Themen erweitert. Es geht um Influencer und ihre Follower, Quiz-Sendungen im Fernsehen und das dazugehörige Casting, rivalisierende Studenten, sowie Geschlechterdiversität und Gewalt gegen Frauen. Das alles in einer ansprechenden Handlung unterzubringen, ist schon keine geringe Leistung.

Vor allem die Variationen sind interessant. Beim ersten Todesfall, einer jungen Mode-Ikone und Influencerin, ist lange nicht klar, ob es sich überhaupt um Mord handelt. Ganz klassisch handelt es sich aber um einen "locked room"! Der Hauptermittler ist kein belgischer Detektiv, sondern - eine weibliche, frisch pensionierte Polizistin, die... eventuell überlegt, Privatdetektivin zu werden. Es gibt weitere Todesfälle, die verschiedene Ursachen haben könnten. Der Täter muss mit an Bord sein. Und auch das Ende... bietet, verglichen mit dem Original, eine augenzwinkernde Parallele.

Das Buch verwendet viel Zeit auf Charakterisierung und Einleitung. Erst fast nach der Hälfte der Seiten wird das erste Opfer überhaupt gefunden. Dennoch, um die modernen Themen aufzurollen, ist das von der Autorin geschickt erdacht. Denn im Zug entfalten sich unselige Verflechtungen. Die anwesenden Studenten, unterwegs zu einem Casting, veranstalten ein "Zug-Quiz", und das, zusammen mit der Weihnachtsstimmung und Alkohol, bietet einen Rahmen, in dem sich toxische Beziehungen noch einmal verschärfen können. Das Ganze geschickt gesprenkelt mit dem rasanten Privatleben von Roz, der Ermittlerin wider Willen - ihre Tochter liegt in den Wehen, und die Geburt verläuft dramatisch. Wettläufe gegen die Zeit allerorten!

Man muss berücksichtigen, dass vieles an diesem Buch sehr britisch ist. Das "Pub-Quiz" hat dort eine sehr lange Tradition, ebenso wie traditionelle Verhaltensweisen zu Weihnachten, das Benehmen unter Fremden im Zug, und etliches mehr. Die Sprache ist im Original sehr, sehr modern; das ins Deutsche zu übertragen, war nicht leicht, ist aber gelungen. Nur ein zentraler Punkt um die Identität des Täters wirkt im direkten Vergleich mit dem Englischen etwas bemüht - es geht aber im Deutschen nicht anders.

Das Buch wirkt sehr spielerisch - das Zug-Quiz kann vom Leser in Teilen mitverfolgt werden. Auch hat die Autorin zahlreiche Anspielungen auf ihre Lieblingssängerin Kate Bush versteckt, was amüsant zu entdecken war.
Insgesamt eine herrlich andere Lektüre, die Spaß macht.