Die Suche nach den Wurzeln

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matheelfe Avatar

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"...Liebe braucht Weite und Freiheit..."

Lioba ist 42 Jahre und Künstlerin. Sie arbeitet mit Stoff und Fell. In wenigen Stunden wird ihre erste Ausstellung eröffnet. Tetra, ihre Freundin, hat das Kleid dazu genäht. Lioba, die vor mehr als 20 Jahren von heute auf morgen zu Hause ausgezogen ist, hat zu dieser Ausstellung ihre Mutter eingeladen. Die Kontakte waren bisher nur sporadisch.
Auf der Ausstellung konfrontiert Lioba ihre Mutter mit der Frage nach ihrem Vater. Am nächsten Tag liegt die Mutter als Schlaganfallpatientin im Krankenhaus. Lioba macht sich auf den Weg in ihre Vergangenheit.
Der Roman erzählt zwei Geschichte:  Liobas Geschichte in der Gegenwart und das Leben eines Mädchens in der Vergangenheit. Dieses Mädchen lerne ich als Leser anfangs in einem Versteck auf dem Dachboden mit der Mutter und einigen wenigen anderen Personen kennen.
Beide Erzählstränge werden langsam zusammengeführt.
Und sie haben eine Menge gemeinsam. In dem Grau des Alltags spielen Farben eine besondere Rolle. Sie machen die Welt der Gedanken bunt und regen die Phantasie an. Das Mädchen beschäftigt sich mit Sticken. Wenn sie fertig ist, trennt ihre Mutter die Arbeit wieder auf. Auch Lioba musste in ihrer Kindheit diese Erfahrung machen.
Die Autorin hat sehr viel mit Bildern gearbeitet. Diese Bilder stehen für Lebenssituationen. So kommt mit den Kleidern die Erinnerung. Lioba will mit ihrer Kunst provozieren. Man muss diese Kunst nicht mögen, aber ihr Sinn und Zweck wird deutlich. Sticken ist für Lioba ein Mittel der Beruhigung. Der Autorin ist das Kunststück gelungen, dass sie mit den Bildern und Metaphern auch bei mir als Leser Erinnerungen geweckt hat. Das Buch dringt tief ins Gefühl. Es hat mich emotional sehr angesprochen und den Blick zurück gelenkt.
Die Protagonistin Lioba wird in ihrer Vielfältigkeit – provokant, verletzlich, verschlossen, um nur einige Eigenschaften zu nennen – dargestellt. Ihre Freundin Tetra dagegen ist eher der zupackende Typ.
Die Ausstellung wird für Lioba zum Wendepunkt in ihrem Leben. Sie wird nicht nur mit ihrer Kindheit konfrontiert, sie muss um Tetras Freundschaft kämpfen, die sie leichtfertig und unbedacht aufs Spiel gesetzt hat. Auch ihr Verhältnis zu Dominic, einem verheirateten Freund, bedarf einer neuen Bewertung. 
Wer nun einen „normalen“ Frauenroman erwartet, liegt falsch. Der Roman spiegelt ein Stück deutscher Geschichte. Er stellt am Beispiel von Lioba die Frage, wie tief die Vergangenheit in das Leben der Nachgeborenen eingreift. Wie weh kann Verschweigen tun? Welche Wunden bleiben zurück? Welche Worte und Taten anderer prägen uns für das Leben? Wissen wir eigentlich immer, was wir mit unseren Worten anrichten? Verlust – wie geht man damit um?
Nur so viel möchte ich verraten, ohne auf das Warum einzugehen. Dort, wo ich als Leser am Anfang verurteilt und gerichtet habe, musste ich am Ende begreifen, dass das Leben ganz anders sein kann als es scheint.
Ich bin mir bewusst, dass meine Worte nicht im Entferntesten den Eindruck beschreiben können, den das Buch bei mir hinterlassen hat. Doch mir fallen keine treffenderen ein. Manchmal fehlen die Worte…
Das Buch erzählt in zwei kurzen, aber entscheidenden Episoden auch vom Versagen des Staates bzw. seiner Organe. Die Wunden sind nie verheilt.
Der Autorin ist ein ausgezeichnetes Buch gelungen. Es bewegt dazu, dass eigene Leben zu überdecken und Fragen zu stellen. Es beeindruckt in seiner Lebendigkeit durch die Kraft seiner Bilder. Nicht jedem Schriftsteller gelingt es, so gekonnt und akzentuiert mit Worten zu spielen.  
Das Buch würde ich nicht nur, sondern werde ich in meinen Bekanntenkreis weiterempfehlen. Es ist für mich DAS Buch des Monats. Es zeugt von tiefen Einfühlungsvermögen und großer Menschlichkeit. Das Eingangszitat spricht Lioba fast am Ende des Romans, als nichts mehr war wie am Anfang.
Zum Abschluss möchte ich kurz auf das Cover eingehen. Die beiden Blumen in getrennten Vasen symbolisiert für mich Einsamkeit. Um die Klassik zu bemühen: Sie konnten zusammen nicht kommen! Das steht für den Beginn des Romans. Am Schluss findet sich die Brücke, die verbindet.