Ein Debüt von großer verbaler Sprengkraft

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Tonya träumt von einem Haus mit Garten. Glück, so stellt sie es sich vor, ist es, mit einer Tasse Tee auf der Veranda zu stehen und ihrem Hund beim Spielen zuzusehen. Für die lebhafte Karina ist das nichts. Für sie bedeutet Glück nichts anderes als Stillstand und Trägheit.

Ihre Fakultät ist mit Kindern von Unternehmern, Managern und Regierungsbeamten übervölkert. Und die studieren einzig um ihren Lebenslauf aufzuhübschen, leben nicht im Wohnheim und suchen nicht nach Jobs. Karina und Tonya studieren politischen Journalismus. Nach ihrem dritten Semester wurde Anna Politkowskaja unweit der Uni auf offener Straße erschossen. Dank dem selbst ernannten Zaren sind die Zeiten wieder unsicher. Man geht der Polizei aus dem Weg, ist besser so. Ihre Zukunftschancen sind übersichtlich und sie leben zu lange in Moskau, um an eine echte Opposition oder freie Wahlen zu glauben. Europa würde ihnen gefallen, deshalb suchen sie nach Austauschprogrammen europäischer Universitäten.

Tonya lebt ihm Wohnheim, teilt sich ein Kabuff mit anderen Kommilitoninnen, kocht Nudeln im Wasserkocher und flucht, wenn jemand ihr wieder das frisch gewaschene Spitzenhöschen von der Heizung geklaut hat. Karina tingelt zwischen dem Schlafsessel bei ihrer lieblosen Mutter in Moskau und dem Bett bei ihrer geliebten Oma, weit außerhalb der Stadt. Meistens verpasst sie nachts um eins die letzte Metro und dann lässt sie sich von einem Typen abschleppen oder kriecht zu Tonya ins Bett. Sie jagen Wombats hinterher, leicht beleibte Männer mittleren Alters, die schon zwei Unternehmen gegründet haben und dreimal geschieden sind. Nur die interessieren sich nicht für Tom Sawyer und Huckleberry Finn. An den jungen Frauen, die deren Blick zum Glänzen bringen, ist alles lang, Haare, Beine, Fingernägel, sie sind gepflegt, geduldig und sexy. In Russland können Frauen alles werden, dennoch entscheiden sich die meisten dafür, Mätressen zu sein.

Fazit: Maya Rosa hat ein Debüt mit ganz großer verbaler Sprengkraft hingelegt. Die Wortakrobatin hat zwei junge Protagonistinnen geschaffen, die mit einem mickrigen Stipendium versuchen, ein Studium zu wuppen und zu überleben. Beide schlagen sich Seite an Seite mit diversen Nebenjobs durch. Trotz der politischen Diskrepanz ist der Hunger nach Abenteuer und Zerstreuung und die Lebensfreude spürbar. Ich erfahre viel über dieses Land, ohne mich durch Infodump erschlagen zu fühlen. Die Autorin webt alle Eindrücke in die Geschichte hinein. Korruption, Staatsgewalt, die Kluft zwischen Arm und Reich und die Dekadenz des Reichtums, der jung erworben wird. Frauen, die von Freiheit träumen und sich stylen, anbiedern und verraten, um auf die schimmernde Seite der Medaille zu gelangen. Alle sind ein bisschen schmierig. Die beiden Heldinnen Tonya und allem voran Karina, aus deren sprunghafter Sicht erzählt wird, sind beste Freundinnen, bis es in Tonya klickt und sie schneller erwachsen werden will als Karina. Ich liebe die rotzige, lakonische, lustige Erzählstimme, die mit Worten umgeht, als würde sie ein großes Orchester dirigieren. Da ist alles dabei vom Paukenschlag über die Klarinette bis zur Harfe. Meine Güte, war das unterhaltsam.