Zwischen Tango und Projektorlicht – Litas Reise ins Herz der Geschichten

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Lita wächst in einem Leben auf, das vom ersten Atemzug an aus dem Takt der gewöhnlichen Welt fällt. Ihre Mutter Fabiola – eine Frau, die den Tango nicht nur tanzt, sondern im Blut trägt – wirbelt sie durch eine Kindheit, die von Leidenschaft, Chaos und plötzlichen Wendungen bestimmt ist. Als die politischen Verhältnisse ihrer Heimat ihnen den Boden unter den Füßen wegziehen, geraten Mutter und Tochter auf eine abgelegene Insel vor Neufundland: ein Ort, an dem der Wind Geschichten erzählt und die Menschen eher dem Meer vertrauen als ihrem eigenen Glück. In einem alten Seemannsheim, bevölkert von schrägen, aber herzoffenen Gestalten, findet Lita eine neue Welt, die langsam – völlig unerwartet – zu ihrem Zuhause wird. Dort begegnet sie Oona, der gehörlosen Tochter der Gastgeber, deren stille Stärke mehr sagt als jedes Wort. Und eines Tages rollt ein Mann namens Mr. Saito seinen Projektor aus, spannt ein Laken in die salzige Luft und bringt Bilder, Hoffnung und Veränderung auf diese windumpeitschte Insel. Seine Ankunft bleibt nicht ohne Folgen: Für die Bewohner, für Fabiola – und vor allem für Lita.
Was Annette Bjergfeldt daraus formt, ist ein Roman, der weniger eine Geschichte erzählt als ein Leben einatmet. Ihre Sprache hat eine Musikalität, die spürbar macht, dass sie nicht nur Autorin, sondern auch Musikerin ist. Jeder Satz wirkt rhythmisch gesetzt, jede Szene wie ein leuchtendes Bild, das langsam in die nächste überblendet. Man liest und hat das Gefühl, der Roman sei selbst eine Art Wanderkino: lichtdurchflutet, melancholisch, manchmal flackernd, aber immer mit Wärme und stiller Kraft.
Stark ist vor allem die Art, wie Bjergfeldt Emotionen nie breit ausmalt, sondern sie in kleinen, präzisen Momenten aufflammen lässt. Wenn die Inselbewohner in Mr. Saitos Filmen Dinge erkennen, die sie sich selbst nicht zu sagen trauen – unerfüllte Wünsche, verlorene Träume, heimliche Hoffnungen –, dann spürt man, dass Kino hier mehr ist als Unterhaltung: Es ist ein Spiegel, eine Rettungsleine, ein geheimer Raum. Besonders Lita findet im Licht des Projektors etwas, das ihr Leben neu ausrichtet – nicht wie ein Paukenschlag, sondern wie ein langsames, inneres Aufleuchten.
Die Erzählstruktur, die sich in sieben „Wellen“ gliedert, spiegelt nicht nur das Auf und Ab von Litas Lebensreise, sondern schenkt dem Roman einen ruhigen, fließenden Rhythmus. Manche Passagen wirken beinahe träumerisch, als würde man im Gleichklang mit der Brandung lesen. Wer rasante Handlung sucht, könnte hier ungeduldig werden – aber wer sich gerne in atmosphärische Welten fallen lässt, wird sich in diesem Tempo verlieren wie in einem langen Kinonachmittag, der im Dämmerlicht endet.
Was jedoch am stärksten nachhallt, ist dieses Gefühl, dass Familie nicht immer die ist, in die man hineingeboren wird, sondern jene, die einen auffängt, wenn man aufs offene Meer hinaustreibt. Die Freundschaft zwischen Lita und Oona, die exzentrischen Seemänner, der wortkarge Mr. Saito – sie alle werden zu Ankern in einem Leben, das von Anfang an auf Bewegung eingestellt war.
Mr. Saitos reisendes Kino ist ein Roman voller Zwischentöne: melancholisch, warm, humorvoll, poetisch. Ein Buch, das nicht laut ruft, sondern leise bleibt – und gerade deshalb lange im Herzen vibrierend zurückbleibt. Ein großes, stilles Kino, das zeigt, wie sehr Geschichten verändern können. Und wie manchmal schon ein flackerndes Bild auf einem weißen Laken reicht, um ein Leben ins richtige Licht zu rücken.