Familiengeschichte im Kontrast zwischen Stadt- und Landleben

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sleepwalker1303 Avatar

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Ich bin Landkind, komme allerdings nicht von einem Bauernhof. Trotzdem habe ich vieles in Martina Bogdahns Buch „Mühlensommer“ wiedererkannt. Ich musste bei der Lektüre oft nicken, denn so war das Aufwachsen auf dem Land, inklusive der dementen Oma. Ich konnte die Streusel von Omas Apfel- und Zwetschgenkuchen schmecken und ihre Stimme beim Nachtgebet „Ich bin klein, mein Herz ist rein“ sagen hören. Für mich ein Debut-Roman, der Lust auf mehr macht.
Aber von vorn.
Die alleinerziehende Maria wollte eigentlich mit ihren beiden Teenie-Töchtern und einer befreundeten Familie als Auszeit vom stressigen Alltag in der Stadt ein entspanntes verlängertes Wochenende auf einer Berghütte verbringen. Ein Anruf ihrer Mutter stellt alles auf den Kopf. Hatten ihre Hauptprobleme vorher darin bestanden, eine Werbekampagne zu beenden, für ihre Tochter ein Ladekabel zu finden und für ihre Freunde ein absolut angesagtes Brot zu ergattern, muss sie jetzt überstürzt auf den elterlichen Bauernhof fahren. Ihr Vater hatte einen Arbeitsunfall und liegt im Krankenhaus. Die Mutter sorgt sich gleichermaßen um den verletzten Mann wie um Hof und Tiere, außerdem braucht sie Hilfe bei der Versorgung der dementen Oma. Maria war schon lange nicht mehr auf dem „Mühlenhof“, zwischen ihr, den Eltern und ihrem Bruder Thomas stehen unausgesprochene Dinge. Während das Unausgesprochene darauf wartet, ausgesprochen zu werden, prasseln auf Maria Erinnerungen. Sie denkt an Dinge wie Schweine, Schlachtungen, Herbstkatzen, Krippenspiele, Kartoffelpuffer und die Scham in der Schule, weil sie nach Schweinestall roch und ihre Klamotten keine Markenlogos hatten. Und in der Zwischenzeit möchte ihre Schwägerin aus ihrem ehemaligen Kinderzimmer einen Hot-Stone-Massageraum machen, dabei sieht da alles noch so aus, wie sie es bei ihrem Auszug zurückgelassen hat.
Erzählt wird die Geschichte etwas wirr, da die Autorin zwischen Gegenwart und Vergangenheit wechselt. Oft wirkt das Buch auch wie eine Aneinanderreihung von mehr oder weniger interessanten Anekdoten, die nicht durch einen roten Faden, sondern durch eine eher magere Rahmenhandlung zusammengehalten werden. Manche werden nicht ganz auserzählt und es bleiben ein paar lose Enden übrig. Da Martina Bogdahn selbst auf einem abgelegenen Bauernhof aufgewachsen ist, ist das Buch vermutlich autofiktional oder sogar autobiografisch. Einiges am Inhalt ist diskussionswürdig, ein paar Dinge auch moralisch zweifelhaft. Musste sie das Schicksal der Herbstkätzchen so schildern und die Schlachtung der Sau so beschreiben, wie sie es getan hat? Vermutlich fühlte es sich für sie richtig an, sonst hätte sie es nicht so geschrieben. Ja, vielleicht hätte dem Buch da eine Warnung gutgetan. Ein paar Passagen haben mich aber trotz aller Tragik schmunzeln lassen, vor allem, als Oma Maria sie ausgerechnet mit ihrem Onkel Herbert verwechselt.
Bezüglich der Charaktere ist das Buch im Gegenwarts-Erzählstrang ein bisschen schwach bestückt. Außer Marias Familie spielen fast nur ihre Freunde mit, mit denen sie das Wocheneden auf der Berghütte verbringen wollte. Die landen im Endeffekt auch auf dem Hof, scheinen dort fehl am Platz, wirken insgesamt eher oberflächlich und gingen mir ziemlich schnell auf die Nerven. Die zahlreichen Personen, die in Marias Vergangenheit eine Rolle gespielt haben, sind zwar realistisch aber leider eher blass und stereotyp beschrieben. Hervorragend finde ich die Dynamiken in Dorf und Familie getroffen. Der Kontrast zwischen Stadt- und Landleben ist gut herausgearbeitet, eines ist aber auf beiden Seiten gleich: alle müssen in ihrem Alltag hart arbeiten. Maria hat, im Gegensatz zu ihrem Bruder Thomas den Absprung geschafft und das Landleben hinter sich gelassen, was er ihr zu neiden scheint. Allerdings sind ihre Wurzeln nach wie vor auf dem „Mühlenhof“ und sie scheint ihn als ihre Heimat anzusehen. „Man bekommt das Kind aus dem Dorf, aber nicht das Dorf aus dem Kind“ sagt ein Sprichwort. Und das stimmt bei Martina Bogdahn ebenso wie bei mir.
Nicht zuletzt wegen der Parallelen zwischen der Autorin und mir habe ich „Mühlensommer“ trotz seiner Schwächen sehr gern gelesen. Für mich war das Buch inhaltlich, stilistisch und auch sprachlich ein Treffer und bekommt vier Punkte.