Neue Thriller- Generation

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singstar72 Avatar

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Das ganze Konzept dieses Buch ist neuartig - und zwar so neu, dass es Leseherausforderung versprach. Man kennt natürlich Genre-Überschreitungen, zum Beispiel das Einarbeiten von Tagebucheinträgen und Zeitungsartikeln in Krimis. Hier wurde dies allerdings auf die Spitze getrieben. Zum ersten Mal besteht ein Thriller aus keiner einzigen Zeile fortlaufendem Fließtext, sondern quasi "nur" aus einer nachgestellten Fernsehserie! Es gibt keinerlei übergeordnete Erzählerperspektive, sondern der Leser wird 1:1 mit dem hypothetischen Zuschauer einer Fernsehserie gleichgesetzt. Man liest gewissermaßen ein Drehbuch, dazwischen Mails, Zeitungsausschnitte, und VoiceMails.

Ich kann die Idee dahinter durchaus verstehen - dem Leser wird suggeriert, dass er den Fall selber lösen könne, und hautnah dabei sei. Allerdings finde ich das Ganze durchaus auch anstrengend! Es sprengt einfach klassische Lesegewohnheiten. Man ist permanent und im Akkord gezwungen, Bilder vor dem inneren Auge entstehen zu lassen. Es gibt keine ruhigen, beschreibenden Passagen; ebenso fehlen innere Monologe und Gedankengänge, die einen Charakter vertiefen könnten. Personen werden einzig und allein aufgrund ihrer Äußerungen vorgestellt, und im geringeren Maße durch ihr Aussehen.

Nun gut, wir haben es mit einer Fernseh-Kultur zu tun, unsere visuellen Gewohnheiten haben sich gewiss verändert. Andererseits - jemand, der visuell geübt ist, also ein Serienfan, ist eben nicht der klassische Leser. Und ein klassischer Leser wiederum wird tendenziell überfordert sein mit der inneren Bilderflut. In puncto Innovation allerdings ist dieses Buch zweifellos einzigartig!

Nun zum Inhalt. Es geht um einen 20 Jahre zurück liegenden Mordfall, einen "Cold Case". Damals wurde ein junger Mann auf dem Grundstück seiner vermögenden Ehefrau erschlagen. Der Fall wurde nie geklärt - bis sich nun der Sohn der Witwe, mittlerweile Regisseur geworden, erneut an die Geschichte wagt. Die Geschichte verspricht Spannung - es werden 6 Experten ins Studio geladen, die sich erneut mit allen Details befassen. Pro ausgestrahlter "Folge" steigt die Spannung kontinuierlich, immer wieder gibt es Twist und Überraschungen. Bis am Ende der Fall tatsächlich vor laufender "Kamera" gelöst wird...

Dem Zuschauer und Leser wird suggeriert, er könne mitraten. Das finde ich aber nur bedingt zutreffend. Eben weil etliche der Beteiligten Informationen zurückhalten. Die eigentlichen "Ermittlungen" werden nicht im Studio angestellt, sondern in der Zeit dazwischen. In der "Sendezeit" werden nur Ergebnisse zusammengetragen.

Der Spannungsbogen ist schon ziemlich großartig angelegt, keine Frage! Man wird als Leser bei der Stange gehalten. Besonders nett ist die Erfindung eines "Fernseh-Journalisten", der eine Kolumne zur "Sendung" schreibt. Ebenso wie ein True-Crime-Forum im "Internet", in dem sich Fans der "Sendung" austauschen. Allerdings werden so dem Leser wiederum Gedanken quasi vorgegeben.

Die eigentliche Geschichte zu kommentieren, ist nicht leicht ohne zu spoilern, eben weil alles so unmittelbar auf den Leser einprasselt. Sagen wir, die Autorin ist erkennbar klassisch sozialisiert, was Krimis betrifft. Die Geschichte bildet - für mich - einen Mix aus "Mord im Orient-Express" und "Zehn kleine Negerlein", beide von Agatha Christie. In der Tat hatte ich allerdings von Anfang an den richtigen Riecher, was den Täter betrifft! (Das hat übrigens Elizabeth George in einem Krimi auch schon mal gemacht.)

Mir kommt die Psychologie in diesem Fall etwas zu kurz - mir reicht es nicht, dass die eingeladene Psychologin in einer einzigen Szene die möglichen Gründe erklärt. Das wäre eben in einem klassischen Krimi besser möglich gewesen, in dem man auch Einblicke in die Gedankenwelt der handelnden Personen hat. (Wiederum möchte ich hier Elizabeth George erwähnen.) Entschädigt wurde man dafür hingegen durch einen netten Epilog, der ein paar Dinge andeutet.

Ich pendle mich ein auf eine Bewertung von vier Sternen. Sobald man sich eingelesen hat, setzt ein Lesesog ein. Nur wie gesagt, man kann sich beim Lesen nicht entspannt zurücklehnen, da das Format viel mehr visuelle Mitarbeit erfordert als üblich. Ich würde dieses Buch einer jungen Generation empfehlen.