Einblicke in einen segregierten Alltag

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Die Wiederentdeckung der Kurzgeschichten der Schwarzen Autorin Diane Oliver ist ein Glücksfall für die heutige Zeit. Wäre die 1943 geborene Autorin nicht mit nur 22 Jahren tragisch bei einem Motorradunfall ums Leben gekommen, sie hätte eine Wegbegleiterin der Literaturnobelpreisträgerin Toni Morrison werden können.

In diesem nun erstmals im Deutschen veröffentlichten Erzählungsband greift die Autorin immer wieder alltägliche Situationen aus dem Leben in den Südstaaten der USA zur Zeit der Rassentrennung auf. Damals galt zwar schon, die Bürger der USA seien „gleich“ aber man hielt sie weiterhin voneinander getrennt. Getrennt in den Bussen, getrennt in der Schule, getrennt in Restaurants oder auf Toiletten. Genau während der Hochphase der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung zwischen den späten 1950er und späten 1960er Jahren spielen die Geschichten von Diane Oliver. Hier geht es um Alltagsheldinnen, deren Ängste, Wünsche und Freuden nie den Weg in die allgemeine Geschichtsschreibung gefunden haben.

So dreht sich die titelgebende und auch erste Geschichte des Bandes „Nachbarn“ um eine Familie, die am Tag vor der Schuleinführung des Sohnes mit sich aufgrund der Anfeindungen, die bereits eingegangen sind und noch bevorstehen werden, hadert, ob sie ihn tatsächlich als erstes und einziges Schwarzes Kind auf eine rein weiße Schule schicken sollen. Es wäre nun ihr Recht, aber was steht dabei auf dem Spiel? In einer anderen Geschichte begleiten wir eine junge Frau, die ihren gesamten Schulweg immer „die erste Schwarze“ unter Weißen gewesen ist und nun auf dem College an dieser Bürde psychisch zerbricht. Aber Diane Oliver bewegt sich mit ihren Geschichten keinesfalls nur in der Gruppe der intellektuellen und tatkräftigen Vorkämpfer:innen der damaligen Bewegung, auch auf die Menschen, die weit davon entfernt sind, überhaupt die Kraft erübrigen zu können, für ihre Rechte zu kämpfen, wirft sie ein Schlaglicht. Auf die Schwarzen Frauen, die sich alltäglich unter Weißen abrackern und doch ihre Familie kaum über Wasser halten können. Die in einem diskriminierenden Gesundheitssystem unvorstellbare Hürden auf sich nehmen, um eine Grundversorgung zu erhalten. Die ihre Kinder vor dem Hungertod retten müssen, während sich ihre Männer aus dem Staub machen. Es werden aber nicht nur ausschließlich Schwarze Protagonistinnen in den Geschichten vorgestellt, auch gibt es weiße Personen, die langsam ihre traditionell konservativen, rassistischen Südstaatler-Ansichten hinterfragen und versuchen neue Wege zu gehen.

Diese Kurzgeschichtensammlung besticht durch ihre Intersektionalität von Race, Gender und Class und wirkt trotz der historischen Gegebenheiten nie veraltet, sondern im Gegenteil brandaktuell, sind doch dunkelhäutige Frauen aus einer niedrigen sozioökonomischen Schicht immer noch weitverbreitet die am meisten benachteiligte Bevölkerungsgruppe. Die Gruppe, die am meisten für ihre Rechte kämpfen muss. Diesen Kampf zeigt Oliver mithilfe der antirassistischen sozialen Bürgerrechtsbewegung Mitte des vergangenen Jahrhunderts in den USA auf. Dieses Buch wird auch heutzutage noch zu Diskussionen anregen und ist durch die mitunter überraschenden Wendungen in den einzelnen Geschichten und Durchmischung der Themen durchgängig interessant. Sprachlich bewies die Autorin schon in jungen Jahren ein Talent für das pointierte Geschichten erzählen, schade dass wir sie nie als sich noch weiter entwickelnde Autorin kennenlernen können. Wie es bei solcherart Zusammenstellungen immer ist, stellt nicht jede Erzählung ein Highlight dar, das liegt in der Natur der Sache, trotzdem erkennt man eindeutig das Talent der Autorin sowie die Dringlichkeit ihrer Anliegen und liest (fast) jede Geschichte atemlos und begeistert. Eine wirklich wichtige Wiederentdeckung!

4,5/5 Sterne