Starke, immer noch aktuelle Kurzgeschichten

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Beim Lesen von „Nachbarn“, einer Sammlung von vierzehn Kurzgeschichten der viel zu früh verstorbenen US-amerikanischen Autorin Diane Oliver (1943-1966), musste ich immer wieder daran denken, wie überraschend und bereichernd es doch ist, Autor*innen (wieder) zu entdecken und neue Sichtweisen oder neue Aspekte eines Themas aufgezeigt zu bekommen und so vergessene, aber immer wiederkehrende Themen auch aus einem anderen Blickwinkel betrachten zu können. Mich hat besonders der Scharfsinn dieser Geschichten begeistert, sind die Figuren, obwohl sie in den äußeren Umständen gefangen sind, doch oft im Denken ihrer Zeit voraus. Man bekommt Einblicke in die Anfangszeit der Bürgerrechtsbewegung, die zwar schon von einem Umbruch geprägt war, in der aber Rassentrennung und Unterdrückung noch an der Tagesordnung waren. Einige der Geschichten sind für mich von tiefster Hoffnungslosigkeit geprägt; die erschreckende Armut, der tägliche Überlebenskampf der Frauen und Kinder, die von den Männern, welche sich vermeintlich in den Norden „davongemacht“ haben, alleine gelassen wurden, zeigen die vermutlich häufig vorkommende bittere Realität in den 1960er Jahren in den Südstaaten der USA. Dann gibt es aber auch immer wieder Geschichten, die Hoffnung machen, wie zum Beispiel „Banago kalt“, in der mit einem Augenzwinkern von einem Aufenthalt dreier amerikanischer Mädchen bei einer Schweizer Gastfamilie berichtet wird. Diane Oliver zeigt die Vielfalt ihrer Gedanken und Beobachtungen auch mit ihrem Schreibstil, wenn sie ihren Geschichten einen surrealen Charakter gibt („Kein Service hier“) oder mit Sprache experimentiert („Gefrorene Stimmen“). Man wird bei der Lektüre auf jeden Fall mit einer Vielzahl an Gefühlen und Einsichten – gerade auch, was die Aktualität betrifft - konfrontiert und ich bin dankbar, dass diese starke, außergewöhnliche und mutige Stimme wiederentdeckt wurde.