Ein Roman über die unterschiedlichen Facetten körperlicher Selbstbestimmung

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mrscatastrophy Avatar

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Anika Landsteiner ist eine Autorin, die ich mehrere Jahre lang fäschlicherweise als typische Millenial-Autorin abgestempelt habe, die halbfeministische Frauen-Selbstfindung schreibt. Zu Glück habe ich entschieden, diesen Eindruck zu hinterfragen. Denn obwohl ich bei „So wie du mich kennst“ nie über das Cover hinauskam, hat mich „Nachts erzähle ich dir alles“ so gepackt, dass ich schon die Zeit zwischen Leseprobe und Ankunft des Rezensionsexemplars genutzt habe, um "So wie du mich kennst" begeistert zu verschlingen.

„Nachts erzähle ich dir alles“ war dann verantwortlich für eine sehr schlaflose Nacht, in der ich das Buch einfach nicht aus der Hand legen konnte. Das Buch war dann der perfekte Begleiter für meine Woche in Norditalien (Norditalien ist zwar nicht Südfrankreich, aber das Sommergefühl war da).

Worum gehts? Die nach ihrer Trennung von ihrer Partnerin nach Frankreich flüchtende Léa trifft in ihrer ersten Nacht im südfranzösischen Sommerhaus ihrer Familie auf eine junge Frau, deren Schicksal sie in den Wochen dort beschäftigen wird. Nach einer Tragödie lernt sie den Bruder dieser jungen Frau kennen. Zwischen beiden entspannt sich eine Mischung aus politischer Allianz und ehrlichem gegenseitigem Interesse – trotz des Altersunterschieds, denn er ist Mitte 20, sie Mitte 30.

Landsteiner ist wahnsinnig gut darin, zugleich tiefgehende, bedrückende und trotzdem mit einer gewissen Leichtigkeit daherkommende Geschichten zu schreiben. Auch in diesem Buch ist ihre Protagonistin nicht einfach nur eine Millenial in einer Lebenskrise, der Sommer in Frankreich nicht nur eine Suche zu sich selbst. Wer denkt, es ginge halt um eine liberalfeministische Emanzipationsgeschichte à la „naja, jetzt darf halt mal die Frau die Ältere sein“, könnte falscher nicht liegen. Verhandelt werden fundamentale Fragen über körperliche Selbstbestimmung, gesellschaftliche Erwartungen, Verlust und Selbstzweifel, was den Roman zu einer Mischung aus gar nicht so leichtem Sommerroman und feministischer Kritik macht.

Das alles fasst Landsteiner in einer plastischen, empathischen und engagierten Sprache, sie katapultiert ihre Leser*innen in einen französischen Sommer und konfrontiert sie dort mit fundamentalen gesellschaftlichen Herausforderungen. Sie drängt uns zur Identifikation mit den Protagonist*innen, ihren inneren Konflikten und den unbequemen Gedanken, die diese aussprechen und die wohl vielen von uns bekannt sind. Sie lässt uns teilhaben an der Wut, den Zweifeln und trotz der klaren politischen Botschaft ist der Roman nicht gekünstelt, der Plot nicht nur Vorwand zur Setzung dieser Botschaft.

Ich könnte weiter schwärmen, aber ich will eigentlich nicht viel über den Inhalt verraten. Das Buch wirkt nämlich gerade durch die Unmittelbarkeit, mit der weitere Ebenen aufgemacht werden. Es ist ein großartiges Beispiel für einen gesellschaftskritischen Roman, der doch nie die Leichtigkeit verliert, und damit ein super Buch für lange nächtliche Lesestunden im Spätsommer, das nachwirkt.