Sommerbuch mit Tiefe

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Kein anderes Buch habe ich in diesem Sommer sehnlicher erwartet als Anika Landsteiners Ende Juli erschienen Roman „Nachts erzähle ich dir alles“. Die Art und Weise, wie @anikalandsteiner gesellschaftliche, feministische Themen in einem Roman verpackt, fand ich bereits in „So wie du mich kennst“ genial.

In ihrem neuen Roman reisen wir mit Léa, Mitte dreißig und relativ frisch von ihrer großen Liebe Toni getrennt, ins Haus ihres verstorbenen Großvaters nach Südfrankreich. Was wie ein mehrwöchiger Urlaubstraum klingt, ist für Léa eher eine Flucht – vor der Realität (Trennung) und sich selbst (Workaholic, um die Trennung zu verarbeiten).

„Die Zeit heilt alle Wunden. Aber das stimmt nicht. Die Zeit versieht jeden Gedanken mit Fußnoten, und nur selten beinhaltet eine: Kann weg.“ (S. 290)

Auf dem Familienanwesen angekommen trifft Léa auf zwei Frauen, die das Schicksal des Sommers in seine Bahnen lenken: Claire, die beste Freundin ihrer Mutter, und Alice, ein junges Mädchen mit rebellischem Geist und großen Plänen. Alice wird noch in derselben Nacht tot aufgefunden – und das macht Léa zur letzten Person, die sie gesehen hat. Alices tragischer Tod führt schließlich ihren Bruder Émile zu Léa, ein Star der französischen Podcast Szene. Die Trauer um seine jüngere Schwester treibt ihn um. Wieso musste Alice sterben? Von wem war das Mädchen schwanger?

Was wie ein Krimi klingt, ist vielmehr eine Mischung aus Gesellschaftsroman und Liebesgeschichte. An Alices Schicksal erzählt Landsteiner die traurige Realität für minderjährige Mädchen, die einen Schwangerschaftsabbruch durchführen wollen, das Vertrauen in Erwachsene verlieren und schließlich auf sich alleine gestellt sind. „Nachts erzählen wir uns alles“ ist aber nicht nur eine Geschichte über Abtreibung, sondern auch über Geschwister, über Freundinnen, über Mütter und Töchter, über boy meets girl. Über die Facetten von Liebe – einseitig oder beidseitig, frisch oder alt, erfüllt oder enttäuscht.

„Wir denken ja immer, wir sind allein mit unseren Empfindungen, aber dann lesen wir etwas oder hören ein Lied und merken plötzlich, dass sich alle Menschen durchgehend mit der Liebe beschäftigen. Und versuchen, Lösungen zu finden für das Chaos hier.“ (S. 296f.)

Ich habe nicht sofort den Zugang zu „Nachts erzählen wir uns alles“ gefunden, aber das Buch hat mich immer tiefer hineingezogen, sodass ich zum Ende hin regelrecht durch die Seiten geflogen bin. Die südfranzösische Kulisse wurde immer plastischer für mich – Anika Landsteiner streut genau die richtige Menge an kleinen Details und Beobachtungen ein, um die Beschreibungen zum Leben zu erwecken. „Nachts erzählen wir uns alles“ ist ein Buch, das mich an manchen Stellen wütend gemacht hat und mich viel hat mitfühlen lassen. Von mit gibt’s eine Weiterempfehlung und:

4/5