Treibjagd im Zoo

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Leerer Stern
buecherfan.wit Avatar

Von

In “Nachtwild“ von Gin Phillips geht es um eine Mutter – Joan -, die wie schon häufig den Zoo mit ihrem vierjährigen Sohn Lincoln besucht. Sie haben ihre Lieblingsplätze besucht und ihre üblichen Rituale absolviert, als plötzlich explosionsartige Geräusche zu hören sind. Joan eilt mit Lincoln Richtung Ausgang, wo sie mehrere Tote am Boden liegen und einen jungen Mann mit einer Waffe sieht. Sie läuft zurück und versteckt sich in einem leeren Gehege, später noch an anderen Stellen, wo sie auf weitere Überlebende trifft. Alle sind gefangen wie sonst nur die Tiere im Zoo.
Im Folgenden geht es um die vielen Entscheidungen, die Joan treffen muss, um ihr Überleben zu ermöglichen. Polizisten tauchen erst am Ende auf. Sie ist auf sich allein gestellt und muss ihren Sohn ständig dazu anhalten, leise zu sein, damit sie sich nicht verraten und darf ihn trotzdem nicht ängstigen, weil seine Reaktionen dann unkalkulierbar werden könnten. Joan muss schließlich ein sicheres Versteck verlassen, um aus den Automaten etwas Essbares zu besorgen, weil bei ihrem Sohn Unterzuckerung droht – mit weiteren unabsehbaren Folgen.
Die Autorin beschreibt einen Zeitraum von etwas über drei Stunden überwiegend aus der Perspektive der Mutter. Sie zeigt, wie eng das Verhältnis zwischen Mutter und Kind ist, wie sie alle Entscheidungen ausschließlich unter dem Gesichtspunkt trifft, dass sie sein Leben retten will. Dabei ist sie sich durchaus der damit verbundenen ethischen Probleme bewusst. Hat sie das Recht, ein Baby nicht zu retten, das ihnen allen durch sein Schreien den Tod bringen könnte?
Der kammerspielartig konstruierte Roman mit der klassischen Einheit von Raum, Zeit und Handlung kommt ohne Gewaltorgien aus, ist aber dennoch packend, wenn auch nicht ganz so spannend, wie in den Werbetexten angekündigt. Die unerwartete Bedrohung durch einen oder mehrere Killer ist kein Produkt der Fantasie von Phillipps, sondern real genug, wie die Schulschießereien – zuletzt in Texas -, die seit dem Massaker an der Columbine High School am 20. April 1999 die USA erschüttern, immer wieder zeigen. “Nachtwild“ macht deutlich, was Mutterschaft und –liebe bedeuten, welche Ängste um ihr Kind eine Mutter von seiner Geburt an umtreiben und zu welchen Opfern sie um seinetwillen bereit ist. Die Autorin charakterisiert ihre Figuren sorgfältig, vor allem Joan und den lebhaften, ungewöhnlich frühreifen vierjährigen Lincoln. Ein lesenswerter, ziemlich ungewöhnlicher Thriller.