Wild!

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Als erstes muss ich unbedingt auf das Cover eingehen, denn das ist wirklich großartig gelungen: Der dunkelrote Tiger, der einen aus wachsamen Augen ansieht, versetzt einen schon direkt in die richtige Stimmung, um mit dem Buch zu beginnen. Ich mag die Schlichtheit des Covers, die trotzdem nicht versteckt, was für ein spannender Inhalt dahintersteckt.

Zunächst lernen wir Joan und ihren Sohn Lincoln kennen und schließen die beiden sofort ins Herz. Joan wirkt wie eine typische Durchschnittsmutter, aber im Verlauf der Geschichte stellt sich heraus, dass sie eine sehr starke, beinahe unerschütterlich mutige Frau ist, deren Beschützerinstinkt dem eines wilden Muttertiers gleicht. Dies ist nur eine von vielen schönen Parallelen der Protagonistin mit dem tollen Setting: einem Zoo. Genau wie es vermutlich andere Tiere im unteren Teil der Nahrungskette tun würden, versteckt sie sich nämlich zunächst mit ihrem Sohn in einem leeren Gehege hinter einem Felsen und wartet darauf, dass die Polizei kommt und sie alle befreit.

Die Polizei braucht jedoch ungewöhnlich lange und auch sonst verläuft nicht alles so wie geplant, denn Lincoln bekommt Hunger und kann nicht still sein, so dass die beiden notgedrungen ihr sicheres Versteck verlassen müssen. Mit subtiler Spannung hält Gin Phillips die Aufmerksamkeit ihrer Leser stets gefangen. Werden Joan und Lincoln es schaffen? Wieso greift die Polizei nicht endlich ein? Und was ist überhaupt das Motiv der Täter? Diese Fragen treiben den Leser an, Seite um Seite umzublättern, bis man erstaunt feststellt, dass man schon am Ende ist. Es ist kein großes, fulminantes Ende, aber es kommt dennoch überraschend und lässt den Leser mit den Gedanken zurück, wie man wohl selbst in dieser Situation gehandelt hätte.

Überraschend waren auch die Perspektivwechsel: Zwar wird hauptsächlich aus der Sicht von Joan erzählt, jedoch schlüpfen wir zwischendurch auch in die Rollen von zwei weiteren Gefangenen im Zoo und - die spannendste Perspektive - in die Rolle einer der Täter. Man möchte kein Verständnis für ihn haben und dennoch schleicht sich eine Art Mitleid für ihn ein. Dies macht einem nur noch einmal bewusst, dass es immer zwei Seiten einer Medaille gibt, dass jede Handlung ein Motiv hat. Und in diesem Fall ist es ein Spannendes noch dazu.

Gin Phillips hat mit "Nachtwild" einen Pageturner geschaffen, der wunderbar aufzeigt, was Mutterliebe und Mutter sein bedeutet und der sehr schön die feinen, aber nicht zu übersehenden Parallelen zwischen Mensch und Tier darstellt. "Nachtwild" macht Spaß zu lesen (ich habe es tatsächlich in einem Rutsch durchgelesen) und gibt einem das Gefühl, hautnah dabei zu sein.