"Sitte"ngemälde der DDR

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Aron Boks, 1997 geboren, entdeckt bei seiner Großmutter ein Bild seines Urgroßonkels Willi Sitte: „Die Heilige Familie“ und stellt fest, dass ihm keiner der darauf abgebildeten Menschen irgendwie vertraut ist. Der Maler selbst ist der Bruder seines Urgroßvaters und auch von dem hat er bislang nur wenig gehört.
Er beschließt, sich auf die Suche zu machen und den Spuren zu folgen, die Willi Sitte hinterlassen hat.
Er befragt Verwandte, recherchiert aber auch in Italien, am Geburtsort Willi Sittes, Kratzau, im heutigen Tschechien, in Halle, seinem langjährigen Wohnort und an anderen Orten seines Wirkens. Zunächst einmal erweitert diese Recherche Arons Horizont beträchtlich. Er lernt viele Verwandte kennen, die ihm vorher vollkommen fremd waren. Und er spricht mit Weggenossen, mit Künstlerkollegen, Schülern, mit Schriftstellern und mit ehemaligen Freunden, die die DDR verlassen haben. Er ergründet das Werk seines Vorfahren ohne Vorurteile. Weder stören ihn die Verwicklungen seines Urgroßonkels in die Politik der DDR noch ist er Kunstkenner und könnte die Bilder von einem künstlerischen Standpunkt aus begutachten. Er geht also sehr offen an die ganze Geschichte heran.
So taucht er doch unverhofft in die Kulturpolitik der DDR in den Jahren zwischen 1950 und 1990 ein. Offenbar war Willi Sitte in seinen jungen Jahren lange nicht so angepasst, wie man es ihm später nachgesagt und angelastet hat. Obwohl überzeugter Kommunist und auch aus einer kommunistischen Familie stammend tat er sich schwer mit den Vorgaben und hätte sich zumindest in den 50er und Anfang der 60er Jahre sehr viel mehr künstlerische Freiheiten und Interpretationsspielraum gewünscht. Später dann nutzte die Schlupflöcher, die sich ihm auftaten. Wie offenbar die meisten DDR-Bürger. Man kannte jemanden mit Einfluss und warum sollte man die Kontakte nicht für sich nutzen. Und wenn man geschickt war, konnte man sich selbst einen Bereich aufbauen, in dem man selbst Einfluss hatte und Dinge entscheiden konnte.
Unsere heutige Sicht auf die Dinge ist im Westen stark von der langen Berichterstattung der Medien während der Zeit der Trennung der beiden dt. Staaten in BRD und DDR geprägt. Es war nicht der Geschichtsunterricht, denn die Politik träumte ja immer noch von einer Wiedervereinigung und entsprechend hörte Geschichte mit dem Dritten Reich auf. Offenbar war es auch später noch so, auch Arons Kollegin Ruth berichtet von zwei Stunden Unterricht über 40 Jahre der Teilung.
Es ist nicht einfach, Menschen, die ein ganzes Leben an das System geglaubt haben und mit dem System gelebt haben, vor den Kopf zu stoßen und ihnen zu verkünden, dass ihr Leben umsonst war. Und die Wiedervereinigung war für viele auch nicht die Lösung, die sie sich erhofft hatten. Sie wollten eine runderneuerte DDR, sie wollten Reisefreiheit, sie wollten das verknöcherte Regime loswerden, sie wollten einen anderen Sozialismus aber sie wollten nicht unbedingt wiedervereinigt werden.
Als Familiengeschichte ist das Buch gut zu lesen, es ist nicht trocken, obwohl eine Auseinandersetzung zwischen Realismus und Kubismus in der Kunst schon mal recht abstrakt werden kann.
Das Titelbild ist einem der Bilder Willi Sittes entnommen, mit dem Titel fremdele ich noch ein wenig. Vielleicht ein Hinweis darauf, dass Willi Sitte mit Vorliebe nackte Menschen gemalt hat und dafür an den zahlreichen FKK-Stränden Anschauungsunterricht nahm.