hier steckt mehr drin als man denken mag

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blätterwald Avatar

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Ich hatte anfangs geglaubt, einen dieser typischen neuen Romane a la Jaud und Co. zu lesen. Doch am Ende war ich anderer Meinung. Auch was die Buchgestaltung betrifft, das passt für mich so gar nicht zum Buch.
Wer denkt, hier wird eine typische Coming-of-age Story erzählt, irrt. Gut, der Rahmen ist so angelegt. 17jähriger Teenager, dicklich, eher der Außenseiter, liebt klassische Musik und ist schwul und verliebt. In Tai, einem gleichaltrigen Vietnamesen.
Der Einstieg in die Geschichte ist schon bemerkenswert, denn welcher Teenager masturbiert zu klassischer Musik. Man wird schnell auf eine Fährte geführt, gespickt mit allerlei Klischees. Die Sprache im Buch ist authentisch, sie passt zu den Figuren, der Handlung, wirkt nicht künstlich, was ihr hoch anzurechnen ist. Und es wird sogar im Präteritum erzählt. Die Figurengestaltung ist für einen Erstling auch sehr gut gelungen und wäre nicht das letzte Viertel, ich hätte diesem Roman die vollen fünf Sterne gegeben. Doch das ist persönliches Empfinden, denn vieles, was auf den letzten Seiten passiert, hätte ich mir als Leser anders gewünscht. Ein wenig mehr Mut zur Konfrontation, zu außergewöhnlicheren Lösungen wäre mir lieber gewesen.
Der Zufall (?) will es, das Jannick und sein Kumpel Tai ihren Schuldirektor entführen. Erzählt wird das Buch hauptsächlich aus der Sicht Jannicks, doch es gibt dann den zweiten Strang, den des Direktors Jens Lamprecht. Jannick erscheint schon eher als das ausgleichende Element zu Tai, der rigoroser agiert. Man erfährt viel von Jannick, und das auf eine Art und Weise, die weder gewollt witzig noch bemüht tiefgängig, ist. Es mag für viele Leser eine skurrile und witzige Story sein, doch mich hat sie mehr erschreckt als nur belustigt. Da steckt mehr drin als die Oberfläche scheinen mag. Die ganze Geschichte mit der Entführung und der „Gefangennahme“ ging doch schon sehr unter die Haut. Was ist heutzutage alles so möglich in Zeiten des Internets, der ständigen Dauerpräsenz in den sozialen Medien und Netzwerken und den sogenannten Smarthomes? Noch vor nicht allzu langer Zeit hätte die Story so nicht funktioniert. Hätte Jens Lamprecht nicht so leicht in seiner eigenen Wohnung eingesperrt werden können. Das und dann noch der Punkt mit der scheinbaren Leichtigkeit des Handelns von Tai kann Gänsehaut erzeugen und sehr, sehr nachdenklich stimmen. Das hat mich an den Film „Das Netz“ aus dem Jahr 1995 erinnert. Die Abhängigkeit von der modernen Technik und die Verwundbarkeit, die auch dahintersteckt. Dass gepaart mit den ganzen moralischen Fragen, die dieser Roman aufwirft, nach Schuld und Sühne sozusagen, machen diesen Roman zu mehr als trivialer neuzeitlicher Unterhaltung.
Spannend ist auch die Wandlung von Jens Lamprecht, erinnert an die Bibel und den Paulus. Da hätte der Autor meiner Meinung nach weniger Gas geben können, dann wäre es für mich glaubwürdiger geworden. Weniger ist manchmal mehr. Aber das ist Ansichtssache und es bleibt dem Leser überlassen, wie alles zum Ende kommen wird. Aber eine gut gemachte Geschichte ist es allemal. Gut durchdacht, gerade auch was nach der „Befreiung“ so erzählt wird, wie wenig glaubwürdig die Wahrheit ist. Einfach sehr gut für ein Debüt und mehr als eine lustige Geschichte. Die heutige Zeit mit all ihren Fragen und Tücken gespickt mit den ewigen Problemen des Erwachsenwerdens. Liebe und Glück und Tränen und Enttäuschung, hier findet man alles. Weiter so.