Nichts ist perfekt...

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merkurina Avatar

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...und deswegen auch dieses Buch nicht:-)
Was an dem Buch aber in meinen Augen großartig ist: Es lenkt in einer ungewohnten Art den Blick auf das Phänomen des Perfektionismus. Dabei sind mir die Aspekte wichtig, dass a) Perfektionismus keineswegs eine großartige Charaktereigenschaft ist, sondern vielmehr eine quälende und b), dass die seelische Selbstverstümmlung, die der Perfektionismus anrichtet, von der Gesellschaft befördert und genutzt wird, um ein wachstumsorientiertes Wirtschaftssystem (Kapitalismus!) am Laufen zu halten.

Die Anfangsteile des Buches fokussieren eher die Folgen, die anhaltender Perfektionismus für die individuelle Psyche hat - paradoxerweise stellt sich nämlich keineswegs ein Erfolgs- und Glücksempfinden durch die Ergebnisse all der Anstrengungen ein, sondern Ungenügen und Unglück mehren sich.

Mehr und mehr lenkt der Autor dann den Blick auf die gesellschaftlichen Ursachen des Perfektionismus und zeigt, dass diese immer wirkungsvoller werden, auch dank SocialMedia-Einflüssen, die zu Dauervergleichen anhalten.
Im späteren Teil des Buches hebt eine sozialpolitische Verve an, die teilweise etwas predigend wirkt. Beim überwiegenden Teil der Ansichten des Autors stimme ich aber zu; manches scheint mir plakativ und bei manchen Lösungsvorschlägen hätte ich noch Fragezeichen. Der Optimismus, den er hat, würde ich gerne teilen, auch wenns schwer fällt - aber sonst bleibt uns ja nichts.

Dass die Abkehr vom Perfektionismus uns rebellisch machen kann und soll, leuchtet mir ein - inwieweit Individuen, die sich ganz dem Leistungssystem verschrieben haben, dazu in der Lage sind, weiß ich nicht. Ansonsten gibt das Buch eher wenige Tipps zur "Selbsttherapie" wie klassische Ratgeberbücher - auf einer etwas allgemeineren Ebene erfährt man aber, dass der quälende innere Kritiker keineswegs ein individuelles Schicksal ist, sondern ein gesellschaftliches Symptom - und dass er keineswegs Recht hat oder Positives im Schilde führt. Auch das kann schon entlastend sein.