Perfektionismus - eine "Schwäche" der Gesellschaft

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Perfektionismus gilt als die klassische Schwäche, die genannt wird, wenn im Bewerbungsgespräch die Frage aufkommt: Was ist Ihre größte Schwäche? Denn Perfektionismus ist eine gesellschaftlich akzeptierte, wenn nicht sogar gern gesehene Schwäche. Warum die Kokettierung damit aber fatal sowohl für uns als auch die Gesellschaft ist, erläutert Thomas Curran sehr ausführlich in seinem Buch "Nie gut genug". Das Sachbuch mit dem Untertitel "Die fatalen Folgen des Perfektionismus - und wie wir uns vom Selbstoptimierungsdruck befreien können" sprach mich sofort an, denn wir leben in einer Zeit und Gesellschaft, in der es zu einem regelrechten Lifestyle geworden ist, immer besser werden zu müssen. Der Autor und Universitätsprofessor Curran forscht seit Jahren zum Thema Perfektionismus und hat seine Ergebnisse in diesem Buch zusammengetragen. Dazu gibt er Fallbeispiele, Anekdoten und zahlreiche wissenschaftliche Erkenntnisse zum Besten.
"Nie gut genug" ist in vier Teile unterteilt: In Teil 1 geht es erst einmal um die generelle Frage, was Perfektionismus eigentlich ist. Teil 2 fragt danach, was Perfektionismus mit uns macht. Der dritte Teil befasst sich mit der Herkunft des Perfektionismus bevor es dann im vierten und letzten Teil darum geht, diesen Perfektionismus abzulegen und mit "gut genug" zufrieden zu sein.
Gar nicht so leicht, in einer Welt, die von Perfektionismus geprägt ist und damit ein schier endloses Streben nach Erfolg und Anerkennung zur Folge hat. Ein Ziel, das laut Curran zwangsläufig zu defizitärem Denken und sogar psychischen Probleme führen muss. Warum und wieso erläutert er anschaulich. Dabei fördert er auch überraschende Erkenntnisse zutage, wie beispielsweise die Tatsache, dass sich Perfektionisten seltener auf gehobene Positionen bewerben oder nach Gehaltserhöhungen fragen. Am spannendsten fand ich persönlich aber den Zusammenhang zwischen wirtschaftlichem Wachstum und Perfektionismus, denn nur eine Leistungs- und Konsumgesellschaft, die immer mehr anstrebt, trägt erfolgreich dazu bei und das nicht ohne negative Folgen, besonders für den Einzelnen.
Dass Perfektionismus in vielen Lebensbereichen anzutreffen ist (Bin ich eine gute Mutter? Muss ich mehr trainieren? Wie schreibe ich bessere Noten? Arbeite ich hart genug? Wie generiere ich mehr Follower?), macht es so lohnenswert, dieses Buch zu lesen, denn in vielen Beispielen findet man sich zum Teil oder auch ganz selbst wieder.
Deshalb kann ich "Nie gut genug" uneingeschränkt jedem Leser und jeder Leserin empfehlen, der oder die sich einmal mit den Wurzeln des Perfektionismus und den im Hintergrund wirkenden (wirtschaftlichen) Interessen auseinandersetzen möchte. Es ist detailliert, vielseitig und gut verständlich geschrieben, stellt die richtigen Fragen, öffnet an vielen Stellen die Augen und zeigt auf, wie wir es schaffen können, uns - alleine und als Gesellschaft - von dem herrschenden Perfektionsdrang so gut es geht zu befreien.