Ein Buch, das viele Fragen stellt
Für mich stellt „Notizen zu einer Hinrichtung“ vor allem eine Auseinandersetzung mit dem Thema Todesstrafe dar, das im aktuellen Kontext (Stickstofftod) eine neue Tragik erfährt. Aber auch mit der Frage, wie eine Person zum Mörder wird, eine andere, die Ähnliches erlebt hat, jedoch nicht. Die Autorin beschreibt sehr eindrucksvoll die letzten Tage von Ansel Packer, der seiner Hinrichtung entgegensieht und überlegt: Was wäre, wenn? Was wäre, wenn er andere Wege gegangen wäre, schon in seiner Jugend? Wie hätte sich sein Leben und das seiner Opfer entwickelt – drei junge Mädchen, die er mit 17 tötete, weil er das Babygeschrei seines kleinen Bruders nicht aus dem Kopf bekam? Das Weinen des Babys, das ihn sein Leben lang begleitet, steht symbolisch für seine Panik, für das Gefühl seiner Schuld und seines Versagens, als Mutter und Vater ihn, den 4-jährigen mit seinem zwei Monate alten Bruder Baby Packer auf einer heruntergekommenen Farm zurückgelassen haben. Es ist bezeichnend, dass das Baby nicht mal einen Namen hatte. Während Baby Packer adoptiert wird, bleibt Ansel allein und wird von einer Pflegestelle an die andere weitergereicht. Er fühlt sich schuldig, denn er glaubt, sein Bruder ist tot. Sein Leben lang ist er mit dieser Schuld allein. Sehr einfühlsam beschreibt Danya Kukafka Ansel und seinen Weg durchs Leben, seine Verzweiflung und seine Unfähigkeit, sich in der Gesellschaft zurechtzufinden. Er ist abgestumpft, empfindet wenig und imitiert andere, um nicht aufzufallen. Ein Soziopath? Vielleicht. Erst als er Jenny trifft, hat er das Gefühl angekommen zu sein und dennoch bricht sich die Gewalt 20 Jahre später erneut Bahn und er tötet sie in einem verzweifelten Rausch. Für mich ist Ansel Packer die Hauptperson des Buches, die mit verschiedenen Frauen verbunden ist, die jedoch seltsam blass bleiben (bis auf Hazel, die Zwillingsschwester von Jenny, und vielleicht noch die Kommissarin, der Ansel mit 11 einen halbverwesten Fuchs ins Bett legte – ja sie sind zeitweise zeitgleich in einer Pflegestelle gewesen und sie hat Ansels Wesen früh erkannt – verloren, aber auch gewalttätig). Da ist die noch minderjährige überforderte Mutter, die unter dem brutalen Vater leidet, der sie und die Kinder in einer schrecklichen Welt von Verwahrlosung und Hunger leiden lässt. Sie schafft es, sich zu befreien, aber auf Kosten ihrer Kinder, für die sie auf die Obhut des Staates hofft. Da sind die schablonenhaften Figuren von Izzy, Angela und Lila, die von Ansel ermordet werden und gar nicht die Chance auf ein eigenes Leben bekommen. Da ist Jenny, die ihrer Schwester Hazel auch in schweren Stunden nie zur Seite stand, Alkoholikerin wurde und sich erst spät Ansel trennte. Warum sie trank, warum sie Angst hatte, Ansel zu verlassen, das alles erfährt man als Leser leider nicht. Als sehr positive Gestalt habe ich Blue wahrgenommen, seine 16-jährige Nichte, die ihn sucht und ihm nach über 30 Jahren endlich zu der Familie wird, die er nie hatte – wenn auch nur für eine kurze Zeit, die ihn glücklich macht. Für mich ist sie eine sehr warmherzige liebevolle Person, die uns Erwachsenen trotz ihrer Jugend in ihrer Güte, Vergebung und Zugewandtheit weit überlegen ist. Der Großteil der Frauen umgibt den Protagonisten Ansel wie eine Perlenschnur, die nur dazu dient, seine Geschichte zu erzählen. Hier hätte ich mehr Feinarbeit gewünscht. Ab der zweiten Hälfte des Buches lässt das Lektorat stark nach, hier muss dringend nachgearbeitet werden. Dennoch halte ich „Notizen zu einer Hinrichtung“ für einen sehr wichtigen Roman, aus dem jeder, der ihn liest, seine eigenen, ganz persönlichen Schlüsse ziehen kann. So gibt das Buch keine Antworten, sondern stellt viele Fragen, Fragen über die Gesellschaft, über den Umgang mit traumatisierten Kindern und ihrer Begleitung in die Normalität, über das System, über den Umgang mit Schicksalsschlägen, über Sinn und Unsinn der Todesstrafe, über die Ungleichbehandlung von Straftätern, über Reue und Gnade, Wut und Verzweiflung … Es steckt so viel darin.