Grenzenlose Vergangenheit

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jericothoem Avatar

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Dissoziativ, verschluckt dich diese Geschichte und spuckt dich wieder aus. Oder du lässt dich nicht verschlucken:
Der Schreibstil dieses Buches ist recht speziell und ziemlich "hit or miss", entweder man geht voll darin auf oder findet es anstrengend und kann nix damit anfangen. Die Erzählung besteht im Grunde aus dem inneren Erleben der Hauptperson Rosa, welches wir assoziativ unsortiert und dabei sehr dissoziativ Raum, Zeit und Identitäten verwischend vorgesetzt bekommen. Oder anders gesagt, hier geht viel durcheinander und es gibt immer wieder Brüche, Zeit- und Ortswechsel, die nur subtil klar werden weil die Übergänge fließen erzählt sind. Das ist zuweilen sehr alltagspoetisch, geht aber auch mit Beschreibungen von Alkoholmissbrauch und anderen Krisenausprägungen einher. Immer wieder kommt es zu Einschüben in anderen Sprachen, die für Rosa eine Bedeutung haben. Es wird nicht übersetzt, was für Lesende zumindest bei den Altgriechischen und Lateinischen Satzteilen Schwierigkeiten bereitet könnte. Auf mich wirkt der Stil zwar etwas gestochen, aber durchaus authentisch, ich habe mich beim Lesen ein wenig mit Rosa verloren und finde, dafür hat sie sich am Buchende zu wenig wieder gefunden, so dass ich selber leicht inkohärent aus der Erzählung gehe.

Hilfreich in dieser dissoziativen Verwaschung der Realität fand ich dann Rosas Interaktionen mit Personen die in ihrer Vergangenheit wichtig waren, weil diese sowohl Realitätsanker für mich als Lesenden waren und erst vor diesem Kontrast das ganze Ausmaß der Krise, die Rosa schiebt, deutlich wird. Persönlicher, realer Kontakt im hier und jetzt, geordnet, mit Vergangenheit und Zukunft, dazu ist Rosa lange nicht in der Lage. Stattdessen verwischt Social media noch weiter die Grenzen.

Gefallen hat mir die Umsetzung der Beschreibung dieser dissoziativen Krise von Rosa sehr, insbesondere mit den eingestreuten poetischen Schnipseln, politisch-gesellschaftlichen mini-Essayetts und die immer wieder kurzen Beschreibung die ganz beiläufig aktuelle Themen aufgreifen.

Ich würde jetzt nicht sagen, dass es ein Meisterwerk der Gefühle ist, denn die tauchen in der verherrlichten Sehnsucht und Nostalgie nur schwerlich mal als solche auf. Dadurch war bei mir eine spannende Mischung aus Mitfühlen und Distanz zu Rosa. Bisweilen fühlte ich mich beim Lesen ertappt und unsicher, was mein Lesen eigentlich in dieser social media Inszenierung, Stalking etc macht. Reproduzieren wir als Leser das Ganze nicht irgendwo?

Rosas Geschichte, ihre Beziehungen und Identitätssuche haben mich berührt. Mir gefällt, dass es auch für Rosa immer wichtiger wird in der Erinnerung neue Möglichkeiten zu sehen, ihr Narrativ "nützenberg" zu erweitern und damit den Anderen mehr Echtheit und Eigenständigkeit zuzugestehen. Auch das Ende, der Beginn von Rosas Weg raus aus der dissoziativen Krise war für mich sehr stimmig. Es war immer wieder beeindruckend, wie diese meandernde Erzählung so treffsicher auf den Punkt kommen konnte.

Ein Entwicklungsroman der mich persönlich gut abgeholt hat und den ich empfehlen, wenn euch der Stil zusagt.